112 IRRTÜMER ÜBER DIE TÜRKEI
vorbeugte, was bei der unkriegerischen Natur der meisten Balkanfürsten
wolıl möglich gewesen wäre, oder wenigstens, bevor der Krieg ausbrach, mit
den Balkanvölkern zu einer klaren Verständigung kam.“ Eine so unerfreu-
liche Entwicklung, fügte ich hinzu, sei die Folge unrichtiger Einschätzung
der Stärkeverhältnisse auf dem Balkan gewesen. „Wie Napoleon III. 1866
seine Taktik auf eine fälschlich vorausgesetzte Überlegenheit der Öster-
reicher über die Preußen basierte und erst durch Sadowa aus seinen Illu-
sionen gerissen wurde, so beruhte die Haltung Österreichs vor dem Balkan-
krieg auf der nicht zutreffenden Voraussetzung, die Türkei werde ihre
Gegner mit Leichtigkeit niederrennen. In dieser irrigen Annahme, in der
sich Wien und Berlin begegneten, wurde dem Ausbruch der Feindselig-
keiten nicht energisch vorgebeugt; man ließ die Türken in dem Glauben,
daß an dem Status quo keinesfalls gerührt werden würde, und ermutigte sie
sogar zum Kämpfen, bis die türkische Niederlage das Verfehlte des ganzen
Kalküls bloßlegte und leider gleichzeitig zeigte, daß die Politik der Triple-
Entente derjenigen der Zentralmächte ebenso überlegen gewesen war wie
die Waflen der Balkanvölker der türkischen Strategie und Organisation.“
Was ich damals dunkel fühlte, wiederhole ich heute mit voller Bestimmtheit:
Natürlich wäre es bei mehr Voraussicht und Geschicklichkeit möglich ge-
wesen, dem Ausbruch des Balkankrieges vorzubeugen. Ein kalter Wasser-
strahl nach Sofia würde den unmilitärischen, sehr vorsichtigen König Ferdi-
nand am Vorgehen verhindert, eine feste Sprache in Konstantinopel die
Türken zu den notwendig gewordenen Konzessionen veranlaßt haben. Statt
dessen erfolgte in Belgrad, in Athen und namentlich in Sofia gar nichts,
während die Pforte in ihrer Angriffslust eher bestärkt worden war.
In irriger Einschätzung der militärischen Stärke der Osmanli begeg-
neten sich Alfred Kiderlen und der Generalfeldmarschail Colmar von
der Goltz, ein Beweis, daß gerade tüchtige Spezialisten oft den Wald vor
Bäumen nicht sehen. Kiderlen konnte es gar nicht erwarten, daß, wie er
sich ausdrückte, die braven Türken den Hammeldieben von der unteren
Donau endlich einmal ordentlich das Fell versohlten. Ein hervorragender
Stratege wie Goltz erklärte nach einem türkischen Manöver, das ungefähr
ein Jahr vor der Schlacht von Kirkilisse auf denselben Feldern stattfand,
wo später die türkische Armee von den Bulgaren vernichtend geschlagen
wurde. daß, wenn es sich nicht um ein Manöver, sondern um eine wirkliche
Schlacht gehandelt haben würde, die Osmanen einen der schönsten Siege
ihrer Kriegsgeschichte erfochten hätten. Um so größer war in Wien und
Pest wie in Berlin die Enttäuschung, als die Bulgaren im März 1913 Adria-
nopel erstürmten, dort 29 Paschas gefangennahmen und Konstantinopel
bedrohten. Diese Enttäuschung hatte sich namentlich in Wien und in Buda-
pest in wachsende Sorge und Nervosität verwandelt, als die Sieger im ersten