Brief Bülows
an August
Eulenburg
118 KEINE PROVOKATIONEN
Reichskanzlers und Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums
und damit implieite die Möglichkeit seines schließlichen Aufstiegs zum
Reichskanzler mir verdankte, mir gegenüber von kleinlicher Empfindlich-
keit und scheuem Mißtrauen erfüllt war. Nach emphatischen, allzu empha-
tischen und pathetischen Beteuerungen seiner Dankbarkeit und Verehrung
für mich hatte Bethmann in keiner einzigen konkreten Frage meinen Rat
erbeten. Ich konnte nach Lage der Dinge nur indirekt auf Kaiser und
Kanzler wirken.
Nach längerer und reiflicher Überlegung schrieb ich an den Hausminister
Grafen August Eulenburg, der mit scharfem Verstand einen kühlen Kopf,
vornehme Gesinnung und warmen, wachen Patriotismus verband, einen
nicht allzu langen Brief. Ich begann mit der Versicherung, daß ich die Ab-
sendung meines Schreibens geheimhalten, auch weder Konzept noch Ab-
schrift zurückbehalten würde, Ich betonte, daß ich für mich nichts wolle
noch anstrebte, ich sei saturiert. Sachlich entwickelte ich die folgenden Ge-
danken. Durch unser Kneifen vor dem Stirnrunzeln von Lloyd George und
das verfehlte Kongo-Abkommen hätten wir den Übermut der Franzosen
und die bis dahin mehr latente Revancheströmung in Frankreich neu be-
lebt. Im Falle ernstlicher Differenzen zwischen uns und Rußland würde
Frankreich heute nicht mehr so kurz treten wie im Winter 1908/1909. Dar-
auf deutete der in Frankreich eingetretene, beachtenswerte Personen-
wechsel an wichtigen Stellen: der 1912 erfolgte Aufstieg von Poincare zum
Ministerpräsidenten und Minister des Äußern, noch mehr die 1913 erfolgte
Wahl des „Bon Lorrain‘‘ zum Präsidenten der Französischen Republik,
andererseits die kaum drei Monate später erfolgte Entsendung von Del-
casse als Botschafter nach St. Petersburg. Sorgsame Pflege und Schonung
unserer Beziehungen zu Rußland seien also notwendiger denn je. Frank-
reich sei derjenige Punkt in Europa, wo, nicht in der Masse der Bevölke-
rung, aber an manchen einflußreichen Stellen, ernstlich von Kriegslust und
Kriegsgefahr gesprochen werden könne. Auf die Haltung Rußlands komme
esin erster Linie an. Die Lage auf der Balkanhalbinsel habe sich zu unserem
Nachteil verschoben durch die Balkankriege, denen wir nicht rechtzeitig
vorbeugten. Während die Türkei und Bulgarien geschlagen wurden, hätten
Serbien und Rumänien an Macht und Einfluß gewonnen. Das sei unerfreu-
lich für uns, bedenklich für Österreich-Ungarn. Es komme nun vor allem
darauf an, daß Österreich-Ungarn nicht die Nerven verliere. Es handele sich
darum, über die vorhandene Spannung hinwegzukommen, die nicht ewig
dauern werde. Keine unvorsichtigen Gesten! Noch weniger Provokationen!
Ich schloß mit jenem gern von mir zitierten Wort Goethescher Weisheit,
an das ich während zwölf Jahren mehr als einmal Seine Majestät erinnert
hatte, daß, wer sich nur heute, heute nur nicht fangen lasse, hundertmal