„NICHTS GEHEIMES PASSIERT“ 121
brieflich geklagt, daß er leider „das passende Stichwort für die Wahlen“
nicht finden könne. „Eine aus dem Liberalismus, dem Zentrum und einem
Teil der Freikonservativen zu bildende Majorität wäre denkbar, würde uns
aber zu weit links führen, so bleibt das Problem undurchsichtig und gefahr-
drohend.“ Ihm sei in erster Linie darum zu tun, das Pensum des künftigen
Reichstags möglichst klein zu gestalten „und vor allem zu kalmieren“. Ein
rosaroter Reichskanzler sei ebenso unmöglich wie ein schwarz-blauer. Auch
Bismarck habe es als scine Aufgabe bezeichnet, zwischen den Parteien zu
lavieren. Er denke es zu machen wie Bismarck. Gewiß sei es ihm peinlich,
daß er bei den Wahlen keine aktive Führerrolle werde spielen können. Aber
wie das anfangen? Die wirtschaftliche Wahlparole ziche nicht, weil sie zu
wenig bestritten werde. Mit dem Bülowschen Zolltarif und den Bülowschen
Handelsverträgen sei nach allem Geschrei von links und von rechts jetzt,
ein Jahrzehnt später, alle Welt zufrieden. Die antisozialdemokratische
Wahlparole sei leider „momentan nicht packend‘“. Nicht nur für die
Parteien, sondern auch für die Staatsregierung sei es fortwährend
schwieriger, ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie zu regulieren. Glücklicher-
weise gäre es innerhalb der sozialistischen Reichtagsfraktion so gewaltig,
daß die revisionistischen und die radikalen Elemente nicht einmal mehr die
hergebrachten Umgangsformen untereinander bewahrten. Die auswärtige
Lage schilderte mir mein Nachfolger nur mit knappen Strichen, aber
hoffnungsfreudig, namentlich was unser Verhältnis zu England betrefle.
„Im Auswärtigen ist nichts Geheimes passiert. Mit England kommen wir
langsam, aber stetig vorwärts! Sasonows Erkrankung verzögert den Ausbau
der Potsdamer Gespräche, ohne ihn einstweilen zu gefährden.“ Mit Frank-
reich würde es sogar zu einer Entente kommen, „falls die dortige Regierung
stark genug ist.“ Alles in allem gab der Optimismus des schwerblütigen
Kanzlers dem des von Natur zuversichtlichen und freudigen Kaisers
nichts nach.
Im Sommer 1913 war ich meinem Namensvetter, dem Gesandten in
Hamburg, Hans Adolf von Bülow, begegnet. Er vertrat seit einem Jahr bei
Herrn von Bethmann Hollweg, wenn dieser nicht in Berlin weilte, das
Auswärtige Amt. Er war dem Reichskanzler, der für seine dienstliche
Umgebung ein gemütlicher Chef war, herzlich zugetan; übrigens ein
tüchtiger Mann von diplomatischer Erfahrung und gesundem Verstand. Er
erzählte mir, der Herr Reichskanzler habe ihm wiederholt geklagt, daß er
wenig Freude an seinem Amt hätte. Er sei nun einmal eine sensitive Natur,
Angriffe im Parlament und in der Presse gingen ihm sehr nahe, eine bos-
hafte Karikatur könne ihm eine ganze Nacht verderben, ihm fehle die
„Rhinozeroshaut‘ des Fürsten Bülow. Der Kaiser behandele ihn oft recht
rücksichtslos, wie ein Reichskanzler sich eigentlich nicht behandeln lassen
Beziehungen
zu England