„UNORDNUNG IN BERLIN“ 129
Berlin so schöne Zusagen und Beteuerungen eingeheimst habe, die er für
bare Münze hielt, habe die deutsche Regierung einen der tüchtigsten
deutschen Offiziere, den General Liman von Sanders, nach Konstan-
tinopel geschickt, aber nicht als Instruktor, sondern als Kommandierenden
General des an den Dardanellen stationierten türkischen Armeekorps. Das
heiße so viel wie einen Freund auf sein empfindlichstes Hühnerauge treten.
Kaiser Nikolaus habe ihn seines Postens enthoben, wozu freilich auch
Intrigen seines Vorgängers und früheren Gönners, jetzt seines heftigen
Gegners, des Grafen Witte, beigetragen hätten. Über Witte sprach sich
Kokowzow mit der den Russen oft eigenen Maß- und Zügellosigkeit in
Ausdruck und Urteil aus. „Ce bätard d’un Waguemestre allemand et d’une
Circassienne a fait le malheur de la Russie. A la fois grossier et faux, il a
prepare la revolution, sans avoir la force de la dominer.‘‘ Ein ungerechtes,
jedenfalls ein übertriebenes Urteil. Wenn Witte auch nicht zum Kanzler
eines konstitutionellen Reichs gemacht war, so hat er doch rechtzeitig
erkannt, daß, namentlich unter einem so schwachen Zaren wie Nikolaus II.,
die reine Autokratie in Rußland nicht mehr möglich war. Witte war auch
nicht schlecht. Er hatte keine guten Manieren, er neigte zu Brutalität, er
war oft plump, wirklich böse war er nicht. Seine Liebe zu seiner Mathilde,
der Stolz, mit dem er davon sprach, daß er für die Tochter, mit der
Mathilde ihn beglückt hatte, bevor er sie heiratete, als Gatte einen Bojaren
gefunden habe, „un boyard, un veritable boyard, un noble de grande
souche“, den freilich ziemlich heruntergekommenen Kyrill Naryschkin,
hatte etwas Naives und beinahe Rührendes.
Hinsichtlich des Zwischenfalles Liman von Sanders meinte Kokow-
zow, er glaube nicht, daß von deutscher Seite Hinterlist oder auch nur
böse Absicht vorgelegen habe, aber offenbar herrsche in Berlin ein be-
daucrliches „Dösarroi“. Die Entsendung des Generals Liman von Sanders
sei nach dem, was im Berliner Auswärtigen Amt dem russischen Bot-
schafter gesagt wurde, vom Kaiser direkt befohlen und vom Militärkabinett
ohne vorherige Anfrage beim Auswärtigen Amt in die Wege geleitet worden.
Als die Deutsche Botschaft in St. Petersburg in ihren Berichten auf die
Erregung hingewiesen habe, welche die dem General Liman an den
Dardanellen übertragene Mission in Rußland hervorrufe, hätten Bethmann
und seine Mitarbeiter für mildernde Umstände plädiert. Sie selbst seien
gar nicht gefragt worden, sie würden aber ihr möglichstes tun, damit solche
unangenehmen Zwischenfälle sich nicht wiederholten. Auch würde sich der
General Liman der größten Vorsicht befleißigen. „Le resultat final est que
plusieurs pots ont Et& casses et qu’on a a St. Petersbourg l’impression qu’un
grand desordre r&gne dans les spheres dirigeantes de Berlin.‘ Als nach dem
Zusammenbruch des Zarentums die russischen Archive sich öffneten, hat
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Der Full
Liman von
Sanders