XL KAPITEL
Berlin Juni 1914 . Die Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thron-
folgers - Unterredung mit Bethmann und mit Wilhelm II. - Bethmanns Illusionen
nfang Juni 1914 verließ ich Rom, um mich mit meiner Frau über
Berlin nach Norderney zu begeben, der „geliebten Insel‘, wie meine Frau
sie nannte, die dort besonders gern weilte. In Berlin eingetroffen, begegnete
ich schon in den ersten Tagen manchem alten Bekannten. Es fiel mir auf,
daß die Angehörigen des Auswärtigen Amtes und die diesem Amte nahe-
stehenden Kreise die Weltlage mit sehr weitgehendem, wie mir schien
allzu weitgehendem Optimismus beurteilten. Am 28. Juni 1914, einem
Sonntag, besuchten wir gegen Abend Frau von Lebbin, der ich zum
letztenmal sechs Jahre früher im Sterbezimmer ihres Freundes Holstein
begegnet war. Wir hatten gehört, daß sie, von einem Schlaganfall getroffen,
gelähmt und krank zu Bette läge, und wollten uns nach ihrem Befinden
erkundigen. Wir fanden sie in einem mehr als bescheidenen Zimmerchen
in der Uhlandstraße, fern den Linden und dem Hotel Adlon, wo wir ab-
gestiegen waren, körperlich in einem traurigen Zustand, geistig in alter
Frische. Sie war eine tapfere Frau, eine echte Berlinerin, die sich nicht
unterkriegen ließ. Während wir an ihrem Bette saßen, wurde ihr von dem
Bankier Paul von Schwabach, mit dessen Familie sie langjährige Freund-
schaft verband, telephonisch mitgeteilt, der Erzherzog Franz Ferdinand sei
in Sarajewo mit seiner Frau, der Herzogin von Hohenberg, ermordet worden.
Als Frau von Lebbin mich frug, wie ich über dieses Ereignis und über seine
möglichen politischen Folgen dächte, erwiderte ich, daß ich vom sittlichen
Standpunkt aus selbstverständlich die abscheuliche Untat beklage und
verdamme. Was die politischen Konsequenzen angehe, so könne der Vorfall,
je nach der Art und Weise, wie er behandelt werden würde, sich zu einem
Embarras oder zu einem Debarras entwickeln.
Fast alle Menschen, die ich in den nächsten Tagen traf, waren geneigt,
in der Tragödie von Sarajewo ein D&barras zu sehen. Der österreichische
Botschafter, Graf Szögyenyi, ein durch und durch loyaler Diener des
Hauses Habsburg, Sohn eines Vliesritters und selbst Vliesritter, sagte mir,
als ich ihm kondolierte: Als Christ wie als ungarischer Edelmann bedaure
Aufenthalt
in Berlin