DAS GORGONENHAUPT 147
Quertreibereien führen. Kein Mensch würde es verstehen, warum ich im
August ohne amtliche Funktion, ohne klar umschriebene Mission Rom auf-
suche, wo ich, seitdem ich Privatmann sei, nie den Hochsommer verlebt
hätte. Unter solchen Umständen könnte meine Anwesenheit in Rom nur
schaden, jedenfalls nichts nützen. „Das habe ich mir gleich gedacht“,
meinte der Kaiser, „ich habe das auch Bethmann und Jagow geant-
wortet. Unter uns gesagt, die beiden haben gar keine Lust, Sie nach Rom
zu schicken, da müssen wir wohl den Gedanken aufgeben.‘ Die eigentliche
Frage selbst, die Frage, wie wir operieren müßten, um Italien und Rumä-
nien an der Stange zu halten, berührte der Kaiser mit keinem Wort. Offen-
bar war er sorgsam von Bethmann instruiert worden, der fürchten mochte,
ich könne die nach seiner Meinung fein gelegten Netze seiner Politik stören.
Als der Chef des Generalstabes, der Generaloberst von Moltke, dem
Kaiser gemeldet wurde, entließ er mich mit freundschaftlichem Hände-
druck. Nachdem er fortgegangen war, drehte er sich noch einmal um und
winkte mir zu, mit demselben traurigen Gesicht, mit dem er mich begrüßt
hatte. In der Ferne sah ich die hohe Gestalt und das gleichfalls kummer-
volle Gesicht des Generalobersten von Moltke. Die alten Griechen würden
von beiden, vom Kaiser und vom Generalstabschef, gesagt haben: sie sähen
aus, als ob sie das Haupt der Medusa erblickt hätten, das schrecklich
blickende Gorgonenhaupt, das sich auf der Ägis befindet, auf dem von
Hephästos geschmiedeten Schilde des Zeus, den der Vater der Götter und
Menschen schüttelt, wenn er Sturm und Entsetzen erregen will.
Am nächsten Tage suchte ich meinen Nachfolger auf. Unmittelbar vor-
her war die Fürstin Marie Radziwill bei uns gewesen. Eine Tochter des
französischen Marschalls Castellane, war sie in früher Jugend nach Berlin
gekommen, aber immer Französin geblieben. Ihr Gatte, der Fürst Anton
Radziwill, der Enkel einer preußischen Prinzessin und Großneffe des helden-
haften Prinzen Louis Ferdinand, hatte erst als Adjutant, später als General-
adjutant dem alten Kaiser Wilhelm nahegestanden. Durch ihn hatte
Kaiser Wilhelm I. in Ems unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges mit
Frankreich dem französischen Botschafter Benedetti mitteilen lassen, er
habe ihm weiter nichts zu sagen. Kaum bei uns in den Salon eingetreten,
brach die Fürstin Radziwill in Tränen aus. Sie habe schon einmal, vierund-
vierzig Jahre früher, einen deutsch-französischen Krieg erlebt und sei da-
durch in schmerzliche Seelenkonflikte gekommen. Jetzt aber würde es noch
viel schlimmer werden: ihre älteste Tochter, Betka, sei mit dem öster-
reichisch-polnischen Grafen Roman Potocki verheiratet, ihre andere
Tochter, Helene, mit dessen jüngeren Bruder, dem russisch-polnischen
Grafen Joseph Potocki. Ein Sohn von ihr sei wegen der russischen
Besitzungen der Familie Radziwill in russischen Militärdienst getreten.
10°
Im Reichs-
kanzlerpalais