148 „JA, WER DAS WÜSSTEI“
Französische Verwandte föchten im französischen Heer. Was sie aus Frank-
reich höre, erschrecke sie. Die Erregung, der Haß, die Wut gegen
Deutschland wären dort weit ärger als 1870. Die allgemeine Parole sei:
„Cette fois nous les tenons, ce sera la grande revanche!“
Eine Stunde nach dem Besuch der Fürstin Radziwill empfing mich Beth-
mann Hollweg im Gartensalon des Reichskanzlerpalais, der in Bismarck-
scher Zeit als Billardzimmer gedient hatte und später.in einen Büroraum
verwandelt wurde, in dem im IHochsommer die Reichskanzler zu arbeiten
pflegten. Bethmann stand mitten im Zimmer. Sein Blick, der Ausdruck
seiner Augen bleibt mir unvergeßlich. Im 3. Buch Mose wird von dem
Sündenbock gesprochen, dem Aaron seine beiden Hände auf das Haupt
legt und auf den er alle Missetat der Kinder Israel bekennt, alle ihre Über-
tretungen, alle ihre Sünden, um ihn dann in die Wüste laufen zu lassen.
„Daß also der Bock alle ihre Missetat auf sich in eine Wildnis trage; und
man lasse ilın in der Wildnis.“ Es gibt ein berühmtes Bild, wenn ich nicht
irre, von einem englischen Maler, das diesen unglücklichen Bock darstellt,
mit einem unbeschreiblich hilflosen und traurigen Ausdruck der Augen.
Aus dem Blick von Bethmann sprach Ähnliches. Wir schwiegen beide.
Dann frug ich ihn: „Nun sagen Sie mir bloß, wie ist dies alles gekommen ?“
Bethmann hob seine langen Arme gen Himmel, dann antwortete er mit
dumpfer Stimme: „Ja, wer das wüßte!“ Bei den Diskussionen über die
Schuldfrage habe ich bisweilen bedauert, daß nicht eine Momentaufnahme
des deutschen Kriegskanzlers vom Sommer 1914 gemacht wurde in dem
Augenblick, in dem er so zu mir sprach. Ein solches Bild würde den besten
Beweis dafür liefern, daß dieser unglückselige Mann den Krieg nicht ge-
wollt hat.
Nachdem er sich einigermaßen gefaßt hatte, sagte er mir mit raschen,
sich überstürzenden Worten: „Es wird ein heftiges, aber kurzes, sehr kurzes
Gewitter werden. Ich rechne mit einer Kriegsdauer von drei, höchstens von
vier Monaten und habe darauf meine Politik eingestellt. Und dann hoffe
ich, trotz dem Krieg und gerade durch den Krieg zu einem wirklich freund-
schaftlichen, vertrauensvollen, loyalen Verhältnis zu England zu kommen
Gruppierung wäre ja die beste Garantie gegen die von dem barbarischen
russischen Koloß der europäischen Zivilisation drohenden Gefahren. Ich
habe die Ehre gehabt, unter Ihnen, hochverehrter Fürst, den innerpoliti-
schen Block zwischen Konservativen und Liberalen mitzumachen. Jetzt
gilt es noch edleren Zielen! Ich darf es sagen: Ein außenpolitischer Kultur-
block zwischen England, Deutschland und Frankreich wird noch bedeu-
tungsvoller, wohltätiger und ersprießlicher sein.“ Erstaunt, ja bestürzt
durch eine solche Verkennung der tatsächlichen Lage, erzählte ich Beth-