VERBLENDUNG 149
mann von der Stimmung, in der ich kaum eine Stunde früher die Fürstin
Marie Radziwill gesehen hatte. Bethmann, der inzwischen sein Gleich-
gewicht wiedergefunden hatte, meinte lächelnd: „Hochverehrter Fürst,
hoffen wir, daß die erregbare und trotz ihres hohen Alters noch immer allzu
hitzige Fürstin sich recht bald beruhigen wird und ihre früheren Lands-
leute, die Franzosen, mit ihr. Vor allem mit England erscheint mir, bei ent-
sprechender deutscher Politik, eine rasche Wiederaussöhnung iu keiner
Weise ausgeschlossen. Unser Kaiser ist ja noch schr erbost gegen die Eng-
länder, aber ich hoffe, wir werden Seine Majestät allmählich kalmieren.“
Wenn ich heute an diese Äußerungen des Kanzlers von 1914 zurückdenke,
so frage ich mich, ob in ihnen die wirkliche Denkweise von Bethmann zu-
tage trat, oder ob er nur die von ihm begangenen schweren diplomatischen
Febler nicht zugeben wollte. Es ist aber zweifellos, daß Bethmann im
August 1914 so dachte, wie er zu mir sprach. Als weiteren Beleg für seine
Mentalität möchte ich eine Stelle aus den im übrigen dürftigen Memoiren
anführen, die Baron Schön nach dem Kriege, 1921, unter dem Titel: „Er-
lebtes“ publizierte. Schön, der von 1910 bis zum Ausbruch des Weltkrieges
Botschafter in Paris war, erzählt, er habe sich nach seinem Eintreffen aus
Paris in Berlin bei dem Reichskanzler gemeldet. Dieser, der am Tage vorher
die englische Kriegserklärung entgegengenommen hatte, habe ihn, den aus
Paris heimkehrenden Botschafter, gefragt, ob er glaube, daß für Deutsch-
land ein Bündnis mit Frankreich zu erreichen sein dürfte. Er, der Bot-
schafter, der vierundzwanzig Stunden vorher das von Kriegsfieber, Kriegs-
lust und Haß gegen uns geschüttelte Frankreich verlassen hatte, habe er-
widert: Ein deutsch-französisches Bündnis scheine ihm unter zwei Voraus-
setzungen denkbar: erstens, daß Deutschland den Krieg nicht in franzö-
sisches Land trage; zweitens, daB wir Frankreich sehr glimpflich behan-
delten, vor allem im Ehrenpunkt, vielleicht ihm sogar eine Grenzberich-
tigung auf lothringischem Boden einräumten. Die Verblendung von Kanzler
und Botschafter erinnerte mich an die Illusionen, mit denen 1870 Gramont
gegen Deutschland ins Feld gezogen war. Als unser damaliger Botschafter
in Paris, der Freiherr von Werther, vor seiner Abreise von dem franzö-
sischen Minister des Äußern, dem Herzog von Gramont, Abschied nahm,
hatte ihm dieser die Hand mit den freundlichen, tröstenden Worten ge-
reicht: „Nous nous reverrons bientöt, mon cher Baron. Nos souverains se
livreront quelques galantes batailles, puis ils s’embrasseront et nous rede-
viendrons les meilleurs amis du monde.“
Im Hochsommer 1914 bewegte sich auch unser Botschafter in London,
Fürst Lichnowsky, selbst nach dem Ausbruch des Krieges in kindlichen
Illusionen. Als bereits englische Truppen gegen uns im Felde standen,
erhielt ich einen Brief von ihn, in dem er ınir schrieb, ich könne mir gewiß