Staatssekretär
Delbrück
154 KOPFLOSIGKEIT
Art von Bethmann entsprach es, daß er die Bearbeitung der Ultimatums-
Angelegenheit, auch nachdem sie zu einer schweren Krisis geführt hatte,
sich selbst vorbehielt. Er wollte damit, wie er im Verlauf der Krise gegen-
über einem seiner Mitarbeiter äußerte, sein „Probe- und Meisterstück“ in
der diplomatischen Kunst ablegen. Er hat speziell für die nach London
gehenden Telegramme nicht nur persönlich die Direktiven erteilt, sondern
sie zum Teil selbst konzipiert. Der professorale Zug in seinem Wesen
trat darin zutage, daß er mit eigensinnigem Doktrinarismus an der Vor-
stellung festhielt, er habe sich durch seine Ehrlichkeit und Loyalität die
sichere Freundschaft und zuverlässige Unterstützung von England er-
worben und, auf sie gestützt, keine große Konflagration zu befürchten,
zumal der russische, selbstherrschende und orthodoxe Zar für die serbischen
Verschwörer und Königsmörder nicht das Schwert ziehen würde. Als nach
und nach alle diese Vorstellungen sich als Illusionen und Träumereien er-
wiesen und Bethmann Hollweg, ihm selbst völlig unerwartet, vor einem
Abgrund stand, verlor er den Kopf. Seitdem glich er dem Ertrinkenden,
der nach jedem Strohhalm greift, während er mehr und mehr den Boden
unter den Füßen verliert und der Atem ihm ausgeht. Seine Kopflosigkeit
ging schließlich so weit, daß er am Vorabend des Tages, an dem wir Ruß-
land den Krieg erklärten, den englischen Botschafter, Sir Edward Goschen,
in das Reichskanzlerpalais beschied und ihm & brüle pour-point ein
„understanding“ zwischen Deutschland und England proponierte. Das trug
ihm zunächst eine sarkastische Vorantwort des Botschafters ein und am
nächsten Tage von dem englischen Minister des Äußern, Sir Edward
Grey, eine scharfe persönliche Zurechtweisung. In der Antwort, die der
englische Minister auf das seltsame Bündnisangebot des deutschen Kanzlers
erteilte, war von einem „bargain“ die Rede, einem Schacher, „a disgrace
from which the good name of this country would never recover“.,
Während Bethmann Hollweg mit ungeschickten diplomatischen Schach-
zügen das Reich der schwersten Kriegsgefahr aussetzte, in der wir uns seit
mehr als vierzig Jahren befunden hatten, traf er keinerlei Vorbereitungen
für den Ernstfall. Wieder und immer wieder muß darauf hingewiesen
werden, daß Bethmann den Krieg nicht wollte. Bei ihm wie bei seinen Mit-
arbeitern lag kein Dolus vor, sondern nur Stultitia. Der Staatssekretär des
Innern, der verständige Clemens Delbrück, war Ende Juni 1914 sehr
überarbeitet auf Urlaub gegangen. Am 9. Juli kehrte er, getrieben von
innerer Unruhe, die ihn seit dem Attentat von Sarajewo beherrschte, nach
Berlin zurück und suchte noch am selben Abend Bethmann auf, der ihn in
die gesamte politische Lage einweihte, wie er sie auffaßte. Es war der Tag,
an dem der Staatssekretär Jagow den österreichischen Botschafter
Szögyenyi-Marich empfing, der ihm den Dank des Wiener Kabinetts für die