„ES GIBT JA KEINEN KRIEG!" 155
Bereitwilligkeit aussprach, mit welcher der Deutsche Kaiser und der
deutsche Kanzler Österreich für die gegen Serbien geplante Exekution ihre
volle Unterstützung zugesagt hätten. Jagow quittierte diesen Dank damit,
daß er den Österreichern möglichst schneidiges Vorgehen anempfahl. Als
er den Staatssekretär Delbrück über die Situation informierte, fügte Beth-
mann erläuternd hinzu, daß er den Inhalt des von Österreich geplanten
Ultimatums an Serbien nicht kenne. Er sei jedoch mit Jagow der
Meinung, daß es im Falle kriegerischer Verwicklungen zwischen Österreich
und Serbien gelingen werde, den Brand zu „lokalisieren“, Als Delbrück die
Frage an den Kanzler richtete, ob es sich nicht empfelle, die seit Jahr und
Tag für einen Kriegsfall in Aussicht genommenen Maßnahmen zu treffen
und vor allem Getreideankäufe in Rotterdam vorzunehmen, erwiderte
Bethmann, es sei nicht angängig, von deutscher Seite irgendwelche Schritte
zu unternehmen, die als Vorbereitung zu einem Krieg gedeutet werden
könnten. Delbrück möge übrigens noch mit Herrn von Jagow sprechen.
Am nächsten Tage suchte Delbrück den Staatssckretär Jagow auf, der
ebenso wie Bethmann alle wirtschaftlichen Vorsorgemaßregeln für die Zivil-
bevölkerung als „vollkommen überflüssig‘ bezeichnete. Dem Staatssekretär
des Äußern wie dem Kanzler waren die Anfragen des Staatssckretärs des
Innern augenscheinlich unbequem. Wie Clemens Delbrück mir bald nachher
selbst erzählt hat, deuteten ihm während sciner ersten Anwesenheit in
Berlin, Anfang Juli 1914, der Kanzler wie der Staatssekretär des Äußern
an, daß die politische Lage seine Anwesenheit in Berlin in keiner Weise
erfordere. So ging Delbrück von neuem in Urlaub und traf erst am 24. Juli
wieder in Berlin ein. Wegen etwaiger Getreideankäufe in Rotterdam war
inzwischen nichts geschehen. Der Reichsschatzsekretär Kühn hatte die ge-
forderten Kredite mit den Worten abgelehnt: „Es gibt ja keinen Krieg!“
Erst nach wiederholtem Drängen Delbrücks beim Kanzler Bethmann
wurden die erforderlichen Gelder angewiesen, inzwischen war aber der
Rotterdamer Markt von unseren Gegnern ausgekauft worden. Im Gegen-
satz zu Bethmann hatte Clemens Delbrück von Anfang an mit einer län-
geren Kriegsdauer gerechnet. Schon deshalb erfüllte ihn die in den ersten
Kriegsmonaten an der Front und in der Heimat getriebene Verschwendung
mit schweren Sorgen. Er forderte die sofortige Erfassung und Rationierung
aller Lebensmittel, drang aber mit seinen Vorschlägen bei Bethmann Holl-
weg nicht durch. In Berlin war die unverständige, jedenfalls in hohem
Grade gewagte österreichische Ultimatumsaktion zugelassen worden, ohne
daß für den Ernstfall Vorbereitungen getroffen wurden. In Paris dagegen
hatte schon im Januar 1914 die Stadtverwaltung beschlossen, mit Hilfe
namhafter Aufwendungen, in die sie sich mit allen Militärbehörden teilte,
die Mehlvorräte von Paris so weit zu erhöhen, daß die Stadt während der