BETHMANN DRÄNGT 167
rasch wie möglich führen wollten, so ist es doch unverständlich und völlig
unbegreiflich, warum wir Rußland von uns aus den Krieg erklärt haben.
Das hat uns, mit Unrecht, aber in schwer zu widerlegender Weise, in den
Augen der Welt als die Brandstifter erscheinen lassen. Der Generaloberst
Moltke hat mir wiederholt versichert, er habe nicht nur die vorzeitige
Kriegserklärung an Rußland nicht gewünscht, sondern es wäre ihm lieber
gewesen, wenn wir den Bruch mit Rußland tunlichst hinausgezögert hätten.
Ebensowenig hat Tirpitz auf „Losschlagen“ gedrängt. Er befand sich
während der zweiten Julihälfte überhaupt nicht in Berlin. Er weilte zur
Kur in Tarasp. Der preußische Minister des Innern, Herr von Loebell, der
gleichzeitig dort badete und Brunnen trank, hat mir später erzählt, daß
Tirpitz erschrocken war, als er aus den im Kursaal angeschlagenen De-
peschen ersah, daß die vom Kaiser und vom Auswärtigen Amt als harmlos
angesehene österreichische Ultimatumsaktion zu einer so ernsten diplo-
matischen Krisis geführt hatte. Er und Tirpitz frugen sofort beim Reichs-
kanzler an, ob sie nicht nach Berlin zurückkehren sollten. Bethmann
antwortete mit der dringenden Bitte, nicht nach Berlin zu kommen, da
dies „Aufsehen“ erregen könne. Schließlich fuhren Tirpitz und Loecbell
gegen den Willen des Kanzlers Bethmann nach Berlin, da sie es nicht mit
ihrer Dienstpflicht vereinigen konnten, bei derartig bedrohter Lage des
Reichs im Engadin, im Ausland zu weilen.
Warum erklärten wir schon am 1. August in überstürzter Hast an
Rußland den Krieg? Der Grund hierfür wie für manchen anderen
falschen diplomatischen Schachzug lag in der innerpolitischen Einstellung,
richtiger gesagt in den innerpolitischen Ängsten des Kanzlers. Albert Ballin
hat mir eine anschauliche Schilderung der Szene gegeben, die sich in seiner
Gegenwart am Tage der Kriegserklärung an Rußland im Reichskanzler-
palais abspielte. Als Ballin in den Gartensalon zu ebener Erde eintrat, in
dem damals so furchtbare Entschlüsse gefaßt wurden, sah er den Reichs-
kanzler vor sich, den Kriegskanzler, wie man anfing, ihn zu nennen, der mit
langen Schritten in großer Erregung im Zimmer auf und ab ging. Vor ihm
saß an einem mit Folianten bedeckten Tisch der Geheime Rat Kriege.
Kriege war ein fleißiger, ein gewissenhafter, ein eifriger Beamter. Er war,
um einen Bismarckschen Ausdruck zu gebrauchen, ein sattelfester Jurist.
Aber seine politische Begabung stand nicht auf der Höhe seines juristischen
Wissens. Bethmann, so erzählte mir Ballin, richtete von Zeit zu Zeit an
Kriege die ungeduldige Frage: „Ist die Kriegserklärung an Rußland noch
nicht fertig? Ich muß meine Kriegserklärung an Rußland sofort
haben!“ Der ganz verstört aussehende Kriege suchte inzwischen nach
einem Simile in den bewährtesten Lehrbüchern des Völker- und Staats-
rechts von Hugo Grotius „De jure belli ac pacis“ bis zu Bluntschl;, Heffter