Der
Vormarsch
auf Paris
170 KÖNIG CAROL
betrachtet hatte, für den Fall eines großen Krieges sein Land an der Seite
von Deutschland und Österreich-Ungarn zu halten, in die Unmöglichkeit
versetzt, sich uns anzuschließen. Es kam alles so, wie es mir Peter Carp im
Frühjahr in Rom vorausgesagt hatte. Ohne rechtzeitige Orientierung, ohne
eine mit verständigen Argumenten gestützte Beweisführung, plötzlich mit
der Forderung überrumpelt, in einem offensichtlich durch die Leicht-
fertigkeit der österreichischen und die Schwäche der deutschen diplo-
matischen Leitung möglich gewordenen Krieg, der ein Weltkrieg zu werden
drohte, an die Seite der Zentralmächte zu treten, stand der alte, weise und
würdige König Carol vor dem schmerzlichen Seelenkonflikt: entweder nach
‚einer Regierung von fast einem halben Jahrhundert die Krone niederzu-
legen und seinem Adoptivvaterland den Rücken zu kehren oder als Hohen-
zoller, als preußischer Offizier seinem Heimatlande untreu zu werden. An
diesem Konflikt ist, wie mir seine Gemahlin, die Königin Elisabeth, nach
seinem zwei Monate später erfolgten Tode durch den zu seiner Beisetzung
von Berlin entsandten Fürsten Wedel sagen ließ, König Carol gestorben.
Während unsere Heere auf Paris marschierten, wurde ich als Fünf-
undsechzigjähriger noch einmal von allen Gefühlen bewegt, mit denen ich
fast ein halbes Jahrhundert früher als Jüngling zu den Fahnen geeilt war.
Ich pries diejenigen glücklich, die ohne politische Befürchtungen und Sorgen
in den Reihen der Armee stehen und kämpfen durften, ich wäre glücklich
gewesen, mit der Armee ins Feld ziehen zu können. Ich traf mich fast jeden
Morgen mit meinem alten, lieben Freunde, dem Fürsten Karl Wedel, der eben-
so wieich empfand. Er sah aufeine lange, mehr als fünfzigjährige militärische
Dienstzeit zurück. Er hatte nicht nur reiche militärische Erfahrungen, son-
dern auch militärischen Blick. Er war überzeugt, daß die Armee sich des
alten Ruhmes würdig zeigen, daß sie alles leisten werde, was in mensch-
lichem Vermögen liege. Aber die Heere der Entente wären den Hecren der
beiden Zentralmächte an Zahl weit überlegen. Fürst Wedel hatte vor der
Abreise des Großen Hauptquartiers eine längere Unterredung mit dem Chef
des Generalstabs, dem Generalobersten von Moltke, gehabt. Nach der
Berechnung des deutschen Generalstabs stünden etwas über drei Millionen
Soldaten der beiden Mittelmächte fast fünf und einer halben Million
Franzosen, Russen, Engländer, Belgier und Serben gegenüber. Wedel
beklagte es, daß Deutschland trotz der während der letzten Jahre un-
verkennbar verschlechterten politischen Lage seine militärischen Hilfs-
quellen nicht besser ausgenutzt habe. Das um 28 Millionen Einwohner
ärmere Frankreich träte, dank seiner dreijährigen Dienstzeit, mit an-
nähernd der gleichen Heeresstärke in den Krieg wie das Deutsche Reich.
Der Generalstab hatte eine weit größere Militärvorlage gewünscht, als sie
1913 schließlich eingebracht worden war. Aber Moltke, so klagte Wedel,