DIE FLOTTE WIRD GESCHONT 183
versäumt zu haben, blieb haften, die Wiederkehr einer solchen Gelegenheit
war kaum zu erwarten.‘ Und Tirpitz erklärte direkt: „Am 16. Dezember
hatte Ingenohl das Schicksal Deutschlands in der Hand.“
Woran lag es, daß unsere Schlachtflotte nicht rechtzeitig eingesetzt
wurde? Von Generalstabsoffizieren ist mir versichert worden, daß Schlieffen
wie Moltke auf eine sofortige und offensive deutsche Kriegführung auf hoher
See immer großen Wert gelegt hätten. Der Großadmiral Tirpitz stand auf
dem gleichen Standpunkt und wünschte grundsätzlich eine baldmöglichste
Entscheidung zur See, nicht nur, weil er sich von einer solchen vollen
Erfolg versprach, sondern auch, um zu beweisen, daß die von ihm ge-
schmiedete Waffe schlagfertig und schlagkräftig sei. Aber der Kaiser, das
lahme Auswärtige Amt und der schwankende, ängstliche Reichskanzler
dachten anders. Wilhelm II. hatte von Anfang an, seitdem er begann die
Flotte zu bauen, der Gedanke ganz ferngelegen, seine Marine kriegerisch
zu verwenden. Eine möglichst starke deutsche Seemacht sollte nur eine
Schutzwehr gegen Friedensstörungen sein. Sie sollte auch gelegentlich die
Möglichkeit zu prächtigen Manövern bieten. Mehr nicht. Der Kaiser kannte
jedes einzelne seiner Kampfschiffe. Er hatte auf jedem seine besondere
Kabine, jede Kabine mit Komfort eingerichtet, mit allen Toiletten-
gegenständen, die ihm sein biederer Leibjäger, Vater Schulz, aufgebaut
hatte, mit allen Bildern seiner Lieben an der Wand. Diese seine schönen,
ibm ans Herz gewachsenen Schiffe dem Untergang auszusetzen, brachte er
nicht über sich. Das kam ihm ähnlich vor, als wenn man einem Rennstall-
besitzer vorgeschlagen hätte, seine edelsten Rennpferde vor die Erntewagen
zu spannen mit der Gefahr, daß sie lahmgefahren würden. Der Kaiser
wollte die Flotte „schonen“, Bethmann Hollweg wollte die Engländer
„nicht reizen‘. So begegneten sich beide in der Formel, daß die Flotte bis
zum Friedensschluß unverschrt erhalten werden müsse, um dann bei den
Friedensverhandlungen in die Waagschale gelegt zu werden. Das Ende war
Scapa Flow.
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Vorwürfe, welche die retro-
spektive militärische Kritik dem Generaloberst Moltke macht, auch dem-
jenigen, der nie die karmoisinroten Streifen des Generalstäblers trug,
berechtigt erscheinen. Der Vorwurf, der ihm vor allem gemacht werden
muß, ist, daß er die Zügel am Boden schleifen ließ, daß er die Armeeführung
nicht in der Hand behielt, daß sein Standort, erst Koblenz, dann Luxem-
burg, von dem entscheidenden rechten deutschen F lügel zu weit entfernt
war, daß er nicht einmal für bessere Verständi öglichkeiten zwischen
sich und den betreffenden Hauptquartieren des rechten Flügels gesorgt
hatte. Die einzelnen Armeen leisteten Glänzendes, aber es fehlte die zentrale
Leitung, die einheitliche Hand, die alle Einzelhandlungen in Überein-
Die Nicht-
einsetzung der
Schlachtflotte
Die Lage
an der
Westfront