252 EIN FUSSTRITT
durch dieses Vorgehen nicht nur in der Duma, sondern in ganz Rußland
hervorgerufenen Erbitterung Kaiser Nikolaus den Ministerpräsidenten
Stürmer entlassen. Gegenüber einem ihm nahestehenden, zum Frieden ge-
neigten Russen äußerte, wie ich von zuverlässiger Seite hörte, damals
Nikolaus II.: „Apr&s ce coup de pied de Guillaume la paix devient
impossible.‘“ Nachfolger des friedlich gesinnten Stürmer wurde ein An-
hänger der Kriegspartei, der General Trepow. Als der kluge Graf Ledo-
chowski von dieserWendung erfuhr, meinte er: „In Berlin hat man entweder
die Nerven oder den Kopf oder vielleicht auch beide gleichzeitig verloren.“
Ein nicht zu hartes Urteil. Talleyrand charakterisierte bekanntlich die
durch Napoleon verfügte Erschießung des Herzogs von Enghien mit den
Worten: „C’est pire qu’un crime, c’est une faute.““ Die Wiedererrichtung
Polens, noch dazu in dem Augenblick, wo die Möglichkeit vorhanden war,
mit Rußland zu einem verständigen Frieden zu kommen, war einerseits
eine namenlose Dummtbeit, andererseits ein Verbrechen am Vaterland. Von
verschiedenen Seiten ist mir später bestätigt worden, daß der Zar und sein
Ministerpräsident Stürmer während der Amtszeit des letzteren aufrichtig
und ehrlich den Frieden angestrebt hätten.
Acht Jahre später hatte ich in Rom den Vorzug, die persönliche Be-
Graf kanntschaft des Grafen Ledochowski zu machen. Er bewohnte in der
Ledochowski Vja San Nicola di Tolentino den dritten Stock eines einfachen, nüchternen
Hauses, sehr verschieden von den prächtigen Kirchen und Palästen, von
den malerischen Klöstern des übrigen kirchlichen Roms. Ein langer
Korridor führte zum Appartement des Leiters der S. J. An den Wänden
des Korridors Bilder seiner Amtsvorgänger, darunter manch interessanter
Kopf. Auch die Vikare, die die Restbestände des Ordens von der Auf-
hebung 1773 bis zur Wiedererrichtung 1814 durch die Fährlichkeiten der
Zeiten hindurchgesteuert hatten, befanden sich dabei. Ein dienender
Bruder, der sich als Oberpfälzer zu erkennen gab und seinen Dialekt noch
nicht verlernt zu haben schien, führte mich in den schmucklosen Raum, in
dem Graf Ledochowski mich empfing. Nur eine Madonna und einige Papst-
bilder unterbrachen die Einförmigkeit seines Zimmers. Der General ist ein
Mann von mittlerer Größe, mit ungewöhnlich klugen Augen, mit den Zügen
und der durchgearbeiteten Stirn eines Gelehrten, aber mit den sicheren
Allüren eines geborenen Aristokraten. Er sprach sich über die Weltlage in
ruhigen und abgewogenen Worten aus, mit Offenheit, ohne Versteckspiel
und Finasserien. Er schien über die Verhältnisse aller Länder wie über die
treibenden Kräfte innerhalb der Völker ausgezeichnet orientiert. Seine
Worte verrieten Scharfblick und persönliches Urteil. Unter seinen Aus-
führungen frappierte mich die Bemerkung, daß im letzten Ende die Ideen
immer stärker seien als alle materiellen Kräfte. Die Gewalt finde bald ihre