Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

Hunger- und 
Friedens- 
demonstra- 
tionen 
Das 
allgemeine 
Wahlrecht 
in Preußen 
258 LIEBKNECHT 
Am 20. März 1915 hatten im Reichstag schon zwei Abgeordnete, außer 
Liebknecht der dem Kommunismus nahestehende Sachse Otto Rühle, ein 
kaum dreißigjähriger Schriftsteller, gegen die zweiten Kriegskredite 
gestimmt. Im Januar 1916 beschloß die damals noch gut gesinnte Mehrheit 
der sozialistischen Partei, den Abgeordneten Liebknecht aus der sozial- 
demokratischen Fraktion auszuschließen. Er rächte sich durch die heimliche 
Herausgabe der „Spartakusbriefe“, in denen er gemeinsam mit der russischen 
Nihilistin Rosa Luxemburg für die kommunistischen Bestrebungen Propa- 
ganda machte. Im Frühjahr veranstaltete Liebknecht auf dem Potsdamer 
Platz in Berlin eine revolutionäre Kundgebung mit der Parole: „Nieder 
mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“ Er wurde zu zweieinhalbjähriger 
Zuchthausstrafe verurteilt. Aber seine Anhänger veranstalteten weiter in 
Berlin und in anderen deutschen Städten Hunger- und Friedens- 
demonstrationen. Es wurde offen ausgesprochen, daß die Revolution 
ausbrechen solle, sobald die Lage an der Front bedrohlich würde. Darauf, 
daß sie baldmöglichst bedrohlich werde, wurde durch Agitation bei den 
Ersatztruppen, in den Lazaretten und Genesungsheimen, auf der Straße 
und von Mund zu Mund kräftig hingearbeitet. Von seiten der Regierung 
geschah dagegen nichts. Herr von Bethmann Hollweg war nur damit be- 
schäftigt, sich gegen die Broschüren zu verteidigen, die der General- 
landschaftsdirektor Kapp und einige andere bedeutungslose Alldeutsche 
gegen ihn geschrieben und die den empfindlichen Mann völlig aus 
dem Häuschen gebracht hatten. Er hielt im Parlament gegen die „Piraten 
der öffentlichen Meinung“, wie er sie nannte (der Ausdruck war ihm von 
Riezler-Ruedorffer souflliert worden, der sich nicht wenig darauf ein- 
bildete), die kräftigste Rede, die er je gehalten hat, die einzige, die von einem 
gewissen Schwung, fast von Leidenschaft erfüllt war. „Bethmann gehört 
offenbar zu den Ministern‘“, sagte mir damals ein liberaler Abgeordneter, 
„die nur dann vom Leder ziehen, wenn die eigene werte Haut geritzt wird.“ 
Niemals hatte sich Bethmann zu einer so energischen Sprache gegen unsere 
ausländischen Feinde, geschweige denn gegen die Umsturzbestrebungen 
im Innern aufgeraflt. 
Zu den Zugeständnissen, die unbedingt sofort nach Ausbruch des Krieges 
gemacht werden mußten, gehörte vor allem die seit langem notwendig 
gewordene, aber von Bethmann seit meinem Rücktritt immer vertagte 
Reform des preußischen Wahlrechts. Im letzten Jahr meiner Amtsführung 
wäre eine verständige Umbildung des Preußischen Landtags mit Unter- 
stützung nicht nur der Nationalliberalen, sondern auch der Freisinnigen 
durchaus möglich gewesen. Nach Kriegsausbruch hätte sofort die allgemeine, 
geheime Wahl der preußischen Abgeordneten zugestanden werden müssen, 
vielleicht mit einigen Korrekturen hinsichtlich des Alters für die aktive und
	        
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