DIE RATGEBERIN ANGST 259
passive Wahlberechtigung und der Bestimmungen über die erforderliche
Länge des Aufenthaltes am selben Wohnsitz für den Wähler. Bethmann
rührte aber in der Frage des preußischen Wahlrechts auch während der
ersten drei Kriegsjahre keinen Finger. Erst als ihm im Frühjahr 1917 das
Wasser bis zur Kehle stieg, erlebte die Welt das Schauspiel, daß derselbe
Staatsmann, der seine Tätigkeit als preußischer Ministerpräsident mit einer
pathetischen Philippika gegen die „Verschleppung Preußens in das Lager
des Parlamentarismus‘ und gegen eine bescheidene Ausdehnung des
Wahlrechts begonnen hatte, von heut auf morgen das geheime und unmittel-
bare Wahlrecht für das preußische Abgeordnetenhaus durch eine feierliche
„Osterbotschaft‘‘ des Königs dem erstaunten Lande ankündigte. Wie so
mancher andere Entschluß Bethmanns war auch dieser hervorgegangen
aus Angst, die nun einmal politisch die allerschlechteste Ratgeberin ist.
Bethmann sah in plötzlicher Nachgiebigkeit und völligem Zurückweichen
das einzige Mittel, die Sozialdemokraten noch einige Zeit bei der Stange zu
halten. Er erreichte aber damit nur, daß die sozialdemokratische „Arbeits-
gemeinschaft“ sich als „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutsch-
lands‘ konstituierte, die berüchtigte U.S.P.D., die sofort offen den
Kampf gegen die Fortführung des Krieges und für den Umsturz aufnahm
und unter den Totengräbern deutscher Macht, Wohlfahrt und Größe in
erster Linie steht. Nicht zufrieden mit der „Osterbotschaft‘“, ließ Bethmann
ihr noch eine „Julibotschaft‘“ des Königs von Preußein folgen, in der ver-
kündet wurde, daß der Gesetzentwurf für die Abänderung des Wahlrechts
zum Abgeordnetenhause auf die Grundlage des gleichen Wahlrechts zu
stellen sei. Die Vorlage sei jedenfalls so frühzeitg einzubringen, daß
schon die nächsten Wahlen nach dem neuen Walılrecht stattfinden könnten.
Während bei uns die Hals über Kopf gemachten Konzessionen schon
deshalb keinen nachhaltigen Eindruck hervorriefen, weil zu deutlich zutage
trat, daß sie Bethmann nur machte, um sich noch einige Zeit im Amte zu
halten, zogen namentlich in Frankreich die leitenden Staatsmänner die
Zügel straff und immer straffer an. Der Geist und die harte Faust des
Konvents und des großen Napoleon wurden an der Seine wieder lebendig.
Im Mai 1917 waren infolge der verheerenden Wirkung der verunglückten
Frühjahrsoffensive des Generals Nivelle, des „Buveur de sang‘* (des Blut-
trinkers), wie ihn seine Soldaten nannten, im französischen Heere ernste
Meutereien ausgebrochen. Die Soldaten verweigerten den Gehorsam,
bildeten Soldatenräte nach russischem Muster, verschanzten sich in ihren
Unterkunftsorten und entfalteten rote Fahnen mit dem Ruf: „Nieder mit
dem Krieg!“ Die französische Regierung griff sofort ein und mit der größten
Energie. Es wurden Massenerschießungen vorgenommen und die Bewegung
in kurzer Zeit niedergedrückt. Gleichzeitig brachte die Regierung einen
17°