Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

274 DER BITTERE KELCH 
Bibliothek nach Berlin kommen zu lassen, damit er, ein großer Bibliophile, 
seine geliebten Folianten und Regesten um sich habe, erwiderte er mir: 
„Bis meine Bücher eintreffen, bin ich ja vielleicht schon in einer anderen und 
besseren Welt. Ich bin ein schwerkranker Mann.“ Er erzählte mir dann mit 
vollkommener Ruhe, daß er schon vor Monaten vou München nach Berlin ge- 
schrieben habe, er sei nicht mehr in der Lage, einer etwaigen Berufung zum 
Reichskanzler Folge zu leisten. Trotzdem sei die kaiserliche Aufforderung an 
ihnergangen. Nachseiner Ankunft in Berlin habeihm Graf Lerchenfeld gesagt, 
er dürfe dem Kaiser unter keinen Umständen ein Kabinett mit Parlamen- 
tariern vorschlagen, davon wolle Seine Majestät absolut nichts wissen. Er 
habe geantwortet: „Dann werde ich es gerade tun!“ Als er in der ihm von 
Seiner Majestät allergnädigst bewilligten Audienz damit angefangen habe, 
die Notwendigkeit einer Parlamentarisierung der Regierung zu betonen, 
hätte der Kaiser erwidert: „Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“ Als er 
Seiner Majestät weiter gesagt habe, persönlich sei er, gerade weil er ein alter 
Parlamentarier wäre, im Grunde ein Gegner parlamentarischer Ministerien 
wie jeder Parteiherrschaft, da beides für Deutschland nicht passe, es bleibe 
aber nach Lage der Dinge nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu 
beißen, habe der Kaiser aur genickt und alles Weitere ihm überlassen. Der 
Kaiser hätte sogar den Vorschlag akzeptiert, daß Hertling sich zunächst 
der Unterstützung aller Parteien vergewissern solle, eine Idee, die Seine 
Majestät bis dahin als eine für die Krone unerträgliche Demütigung be- 
zeichnet hatte. Die Rücksprachen zwischen ihm, Hertling und den Partei- 
führern hätten denn auch stattgefunden. Alle Parteiführer bis auf einen, 
den Hertling nicht nannte, hätten ihm, dem alten Kollegen, ihre Unter- 
stützung zugesagt. Nur einer habe ihm nicht verheblt, daß seine Partei bei 
aller persönlichen Sympathie für den langjährigen Reichstagskollegen ihm 
politisch werde opponieren müssen. Diesem Kollegen habe er warm die 
Hand gedrückt mit den Worten: „Sie waren mir persönlich immer lieb, 
sind es mir aber jetzt noch mehr geworden, denn Sie erwecken in mir die 
Hoffnung, daß der bittere Kelch an mir vorübergehen wird.“ Er habe dann 
auch Seiner Majestät sagen lassen, er müsse endgültig auf die Übernahme 
des Reichskanzlerpostens verzichten, und gleichzeitig die Reichskanzlei ge- 
beten, ihm den Salonwagen, in dem er aus München eingetroffen war, 
freundlichst für die Rückfahrt wieder zur Verfügung zu stellen. Daraufhin 
sei der Staatssekretär des Äußern, Herr von Kühlmann, bei ihm er- 
schienen und habe ihm, gemeinsam mit dem Grafen Lerchenfeld, mit 
solchem Nachdruck auseinandergesetzt, er dürfe den Kaiser nicht im Stiche 
lassen, es sei Fahnenflucht, wenn er Berlin verlasse, daß er schließlich den 
Kanzlerposten angenommen habe. Es war Kühlmann, der vor allem die 
Ernennung von Hertling betrieb.
	        
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