DYNASTISCHE AMBITIONEN 275
Er selbst ist nach ihm nicht in den großen Kasten Wilhelmstraße 77
gelangt. Aber auch in der kurzen Zeit seiner Amtsführung als Staats-
sekretär hat er mehr als einmal eine sehr unglückliche Hand bewiesen. Der
Friede von Brest-Litowsk war ein schwerer Fehler. Es war kein Helden-
stück, die Bolschewisten zu ganz exorbitanten Zugeständnissen zu bewegen,
teils weil sie den Frieden um jeden Preis wollten, um sich ungestört der
gründlichen Ausrottung ihrer inneren Gegner widmen zu können, teils weil
Trotzki und Genossen sich am Vorabend der von ihnen mit gläubiger Zu-
versicht erwarteten Weltrevolution glaubten und deshalb jeden Triedens-
schluß nur als ein Provisorium betrachteten. Der Friede von Brest-
Litowsk schadete uns in zwei Richtungen. Er erweckte in der ganzen Welt
den Eindruck deutscher Brutalität und Unersättlichkeit. Er gab der fran-
zösischen und englischen Propaganda die Möglichkeit, mit neuen Schein-
gründen das Märchen von den deutschen Weltherrschaftsplänen zu ver-
breiten. Dieser Friedensschluß mit seinen unsicheren Konturen und seinen
unbegrenzten Zukunftsmöglichkeiten erweckte gleichzeitig in Deutschland
an nur zu vielen Stellen die Hoffnung auf Landerwerb. Der württembergi-
sche Herzog von Urach wollte mit Hilfe des ihm befreundeten Matthias Erz-
berger König von Litauen werden, ein Gedanke, der dem Abgeordneten
für Biberach beinahe ebenso sehr am Herzen lag wie die Feststellung einer
neutralen Zone für den Papst zwischen der Cittä Leonina und Civitä-
Vecchia zwecks ganz freien Verkehrs des Heiligen Stuhls mit der Außen-
welt. Der Prinz Friedrich Karl von Hessen, ein Schwager des Kaisers, be-
warb sich um die Krone von Finnland. Kaiser Wilhelm, dem man von
den prächtigen Auecrochsen in den Wäldern von Kurland gesprochen hatte,
wünschte für sich selbst als Hausgut und Jagdgrund das Herzogtum Kur-
land. Der Kaiser zeichnete recht hübsch und hatte schon das Wappen ent-
worfen, das er als Herzog von Kurland führen wollte. Auch im Westen
machten sich dynastische Ansprüche geltend: Bayern wünschte die Teilung
des Reichslandes Elsaß-Lothringen in der Weise, daß Lothringen an
Preußen, Elsaß aber an Bayern fallen solle. Württemberg erklärte, daß es
in diesem Falle als Entschädigung den Regierungsbezirk Sigmaringen
beanspruche. Sachsen wollte nicht leer ausgehen und ließ durchblicken, daß
der Oberelsaß ganz wohl von Dresden aus regiert werden könne. Es war,
als ob in den deutschen Fürstenhäusern kurz vor ihrem Zusammenbruch
ihre jahrhundertealte Vergrößerungssucht und Leidenschaft des Land-
erwerbs als später Johannistrieb noch einmal zutage trat. Es betrübte mich,
im Winter 1917/18 in Berlin zu beobachten, wie sehr trotz des ungeheuren
Ernstes unserer Lage für viele, allzu viele, selbstsüchtige Bestrebungen,
kleinliche Ambitionen im Vordergrund standen. Oben und unten: An den
deutschen Fürstenhöfen wurden Fürstenhüte ausgeteilt wie an der Tafel
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Der Friede
von Brest-
Litowsk