Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

282 DIE DEUTSCHE MENTALITÄT 
General bald nach dem Kriege erklärt hat, das deutsche Heer sei durch den 
„Dolchstoß von hinten‘ besiegt worden, nicht durch den vor ilım stehenden 
Feind. Die deutsche Sozialdemokratie hat gegen diesen Vorwurf lebhaft 
protestiert, am lebhaftesten gerade diejenigen sozialdemokratischen Führer 
und Publizisten, die diesen Vorwurf am meisten verdienten. In voller Un- 
parteilichkeit muß gesagt werden: So gewiß es ist, daß die sozialdemo- 
kratisch gerichteten Soldaten sich in ihrer großen Mehrheit gerade so tapfer 
geschlagen haben wie die nichtsozialdemokratischen, so ist doch nicht zu 
bestreiten, daß wenigstens die Führer des linken Flügels der Sozialdemo- 
kratie, die selbst den wärmenden Ofen nie verlassen hatten, sich wesentlich 
anders benahmen als ihre Genossen an der Front. Diese Radikalen arbei- 
teten um so blinder auf den Zusammenbruch hin, je näher im Weltkrieg 
die Entscheidung rückte, um so dreister, je mehr die aufeinanderfolgenden 
schwachen Reichskanzler die Zügel am Boden schleifen ließen. 
Während in Frankreich, wie ich schon ausführte, mit Verbannung und 
Gefängnis, mit Pulver und Blei gegen Defaitisten und Pazifisten vor- 
gegangen wurde, und das von radikalen und sozialistischen Ministern, 
während in England eine liberale Regierung die irländische Sinnfein- 
Bewegung blutig unterdrückte, zahlreiche Exekutionen vornahm und den 
Irenführer Sir Roger Casement im Londoner Tower, dem Schauplatz 
mancher blutigen Szene der englischen Geschichte, hinrichten ließ, während 
in den westlichen Ländern die strafgesetzlichen Bestimmungen nicht nur 
über Landesverrat, sondern auch gegenüber defaitistischen und pazifisti- 
schen Umtrieben fortgesetzt verschärft wurden, trat in Deutschland die 
Tendenz hervor, die staatlichen Abwehr- und Schutzmittel entweder ab- 
zustumpfen oder sie wenigstens möglichst selten in Anwendung zu bringen. 
In dieser Richtung überboten sich die ausschlaggebenden Parteien, die 
Sozialdemokratie, das Zentrum und die bürgerliche Demokratie, mit einem 
nur bei uns möglichen spießbürgerlichen und weltfremden Doktrinarismus. 
Es triumphierte in höchster Not, wo es um alles ging, jener „Standpunkt 
des Philisters‘‘, wie Bismarck diese während dreißig Jahren so oft von ihm 
bekämpfte Mentalität nannte. Der deutschen Menschheit ganzer Jammer 
erfaßte mich, wenn ich im Pariser „Temps“ die Einzelheiten über Ver- 
urteilungen las, die erkennen ließen, wie wenig in Frankreich dazu gehörte, 
um vor das Kriegsgericht zu kommen, während sich bei uns Defaitismus 
und Pazifismus wie ein ekelhafter Hausschwamm einfraßen. In denselben 
Tagen, wo dieser Hausschwamm in Frankreich erbarmungslos mit der 
Wurzel ausgerottet und wie übles Gewürm zertreten wurde, erwiderte mir 
ein nicht untüchtiger Beamter des Auswärtigen Amtes, dem ich ge- 
schrieben hatte, er finde in dieser Zeit höchster Not und Gefahr wohl kaum 
einen Moment der Muße und des Ausruhens, mit großem Ernst: „Wir haben
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.