288 DER SCHWERE WEG
mich am schmerzlichsten berührt, ist die Mutlosigkeit, die an vielen Stellen
hervortritt, und die allgemeine Kopflosigkeit. Sind wir denn wirklich so
weit, daß wir die Flinte ins Korn werfen müssen? Haben die Franzosen
nicht mutig weitergefochten, als sie Niederlage über Niederlage erlitten
und wir Paris bedrohten? Haben unsere Feinde denn schon das linke
Rheinufer, Elsaß-Lothringen und Baden besetzt, liegen Aachen und
Koblenz, Freiburg und Mannheim in Trümmern, wird der Kölner Dom
beschossen? Das entspräche doch ungefähr der Lage, in der sich die
Franzosen während vier Jahren befanden. Hat nicht selbst das kleine, bei
Jena besiegte Preußen weitergefochten ? Hat nicht Courbiere, als er von
den Franzosen zur Übergabe von Graudenz aufgefordert wurde mit der
Begründung, daß es keinen König von Preußen mehr gäbe, geantwortet,
dann sei er König von Graudenz? Wo bleiben die Manen von Arndt und
Theodor Körner, von Stein und Schleiermacher ? Hatte der amerikanische
Botschafter Gerard recht, wenn er in seinem bösen Buch ‚Face to Face
with Kaiserism‘ vor einem Jahr schrieb: ‚The nerve of Germany will break.
There is a suicide point in the German character‘?
Wenn die militärische Lage jetzt plötzlich eine so verzweifelte ge-
worden ist, so mußte doch der Wechsel in unserer Haltung nach außen
weniger jäh erfolgen. Die Bildung der neuen Regierung scheint mir zweck-
entsprechend. Besser noch wäre es gewesen, wenn am 4. August 1914,
nachdem der Kaiser das Wort gesprochen hatte, er kenne keine Parteien
mehr, nur noch Deutsche, eine Koalitionsregierung wie in Frankreich,
England, Belgien und später in Italien gebildet worden wäre, die uns
durch den ganzen Krieg geführt hätte. Sie wissen, daß ich vom ersten
Tage an der Meinung war, daß ein Krieg wie dieser nur mit voller
Unterstützung durch die breiten Massen, also vor allem der organisierten
Arbeiter, unter Berufung der sozialdemokratischen Führer in die Re-
gierung geführt werden könne. Gibt uns die Demokratie die Führer, wie
sie Frankreich vor achtundvierzig Jahren in Gambetta und jetzt in
Clemenceau gefunden hat, so bin ich der erste, der sie segnet, wenn sie der
Nation die Fahne vorantragen. Über die Aufnahme, die unsere Friedens-
demarche finden wird, will ich nicht prophezeien. Am intransigentesten
werden die Franzosen sein, denen die Straßburger Kathedrale und der
Metzer Dom in greifbare Nähe gerückt erscheinen und denen unsere vier-
jährige Okkupation auf den Nägeln brennt. Je mehr ich über die Lage nach-
denke, je größer wird meine Bewunderung für unser Volk, seine Leistungs-
fübigkeit und Aufopferungswilligkeit, dieses Volks, daß wir um so mehr
lieben müssen, je schwerer jetzt sein Weg ist. Und um so brennender sei
unser Wunsch, daß ihm einst lichtere Tage und ein besserer Ausblick in die
Zukunft beschieden sein mögen.“