Die Krisen
324 JAHRE DES NIEDERGANGS
republikanischen Deutschland, Matthias Erzberger, am tragischen 8. Juli,
am Abend der Abstimmung, nach einem kopiösen Mahl in dasihm vorgelegte
Gastbuch eines Weimarer Hotels eintrug:
„Erst schaff dein Sach,
Dann trink und lach!“
Ich kann es nicht über das Herz bringen, die Jahre des Elends und der
Schmach, des äußeren Drucks, der Mißhandlung durch unbarmherzige
Feinde und der inneren Unordnung und Unfähigkeit noch einmal an mir
vorbeiziehen zu lassen. Unser Niedergang wird am besten dadurch cha-
rakterisiert, daß, wie ich überzeugt bin, unter zehn Deutschen nicht einer
heute imstande sein würde, die Namen der Reichskanzler anzugeben, die
nach dem Umsturz aufeinander gefolgt sind. Kein Lied, kein Heldenbuch
wird den nachkommenden Geschlechtern die Namen von Gustav Bauer
und Hermann Müller, von Konstantin Fehrenbach und Josef Wirth melden.
Schon im Jahre 1925, sieben Jahre nach dem Umsturz, gab es in Deutsch-
land zweihundertfünfzig aktive und gewesene Minister. Ihre Qualität stand
leider nicht auf der Höhe einer solchen Quantität. Seit wir das Glück haben,
in der Republik zu leben, ist jeder ihundertfünfzig dste Deutsche
ein Minister. Der häufige Wechsel verhindertenicht tel hleichend
Regierungskrisen. Der Vater der Geschichtschreibung, Herodot, erzählt im
ersten Buch seiner Geschichte, daß der weise Solon auf die Frage des Königs
Krösus, wen er von allen Menschen, die er kenne, für den glücklichsten
halte, erwidert habe: „Den Tellos von Athen.“ Denn dieser habe bei
blühendem Zustand der Stadt nach menschlicher Kraft ein glückliches
Leben geführt. Dann, als die Athener wider ihre Nachbarn von Eleusis
stritten, sei er zur Hilfe herbeigeeilt, habe die Feinde in die Flucht ge-
schlagen. „Und starb so den schönsten Tod.“ Dieses Glück war mir nicht
beschieden. Und im neunten Buch seiner Geschichte gibt Herodot eine
Mitteilung wieder, die ihm von dem vielgereisten Theosandros aus Orcho-
menos gemacht wurde, einem der angesehensten Männer dieser Stadt. Der
erzählte dem Herodot, daß, als das persische Heer unter Mardonios im
Krieg gegen die Griechen der Niederlage von Platää entgegenzog, ihm in
Orchomenos ein Festmahl gegeben worden sei, denn die Böotier sympathi-
sierten mit den Persern. Bei dem Gastmahl hätten nach griechischer Sitte
je ein Perser und ein Grieche auf einem Lager geruht. Da habe einer der
Perser unter Tränen einem der Griechen erzählt, er sei überzeugt, daß von
dem Heere der Perser nur wenige dem Tode entrinnen würden. Verwundert
frug der Grieche, warum er das nicht dem Mardonios sage und denen, die
nächst ihm in Ehren stünden unter den Persern. Darauf habe der Perser
erwidert: „Der bitterste Kummer der ganzen Welt ist der, wenn man bei