EIN GEBOT DER GERECHTIGKEIT 325
aller Einsicht keine Macht in Händen hat.‘ Dieser größte Schmerz war
mir beschieden.
Ist der Volksstaat, der durch die Revolution den Obrigkeitsstaat abgelöst
hat, befähigt gewesen, die ungeheure Aufgabe zu lösen, vor die der unglück-
liche Ausgang des Weltkrieges ihn gestellt hat? Ist er befähigt gewesen,
nach dem Zusammenbruch die Geschicke des Reichs mit Energie in die
Hand zu nehmen und, aller Welt Achtung gebietend auch in den Tagen
nationalen Niederbruchs, der großen deutschen Vergangenheit wert zu
sein? Die Antwortet lautet: Nein. Es ist jedoch Gebot abwägender Ge-
rechtigkeit, anzuerkennen, daß die Welt staatlicher und politischer Ideen,
in denen das deutsche Volk im friedlichen Bewußtsein seiner Kraft bis zum
Ausbruch des Krieges gelebt hatte, zu jäh, zu gewaltsam zusammengestürzt
ist, als daß es den Weg zur Neuordnung der Dinge mit der politischen
Überlegtheit hätte finden können, die für die Nationalversammlung in
Weimar, die für die ersten Jahre der Republik notwendig war. Sich selbst
überlassen, wie sie es in Weimar waren, wußten die Männer, die die Macht
an sich gerissen hatten, mit ihr vorerst nur wenig anzufangen. Mitschuld
an diesem Zustand war zweifellos das alte System, das dem Parlamen-
tarismus allzu ablehnend gegenübergestanden hatte. Das hatte dazu geführt,
daß, wer einem Parlament angehörte, sich dadurch mit ziemlicher Wahr-
scheinlichkeit von holıen Staatsämtern ausschloß. Wer damals Karriere
machen, wer Minister werden wollte, tat gut daran, sich vom Parlament
fernzuhalten. Die Folge war, daß Regierungskreise und Parlament sich wie
abgeschlossene Kasten feindselig und mißtrauisch gegenüberstanden. Selbst
verabschiedete Minister, die an sich nichts mehr zu hoffen und nichts mehr
zu fürchten hatten, hielten sich von parlamentarischer Betätigung fern.
Maßnahmen der Regierung als Mitglieder der Volksvertretung zu kritisieren,
die Regierung anzugreifen, wäre ihnen als Fronde gegen Kaiser und Reich
erschienen. Das waren nicht subjektive Erwägungen des einzelnen, sondern
Erwägungen, die im System begründet lagen. In England und Frankreich
greift der abgetretene Ministerpräsident seinen Nachfolger rücksichtslos an,
wenn die Interessen des Landes ihm dies zu verlangen scheinen. In Deutsch-
land war der entamtete Minister zum Schweigen verurteilt. Die Erfahrungen,
die er sich erworben, die Vertrautheit mit Staatsgeschäften, die er sich
angeeignet haben mochte, konnten dem Parlament nicht nutzbar gemacht
werden. Das war zweifellos kein gesunder Zustand. Ich habe die Schwierig-
keiten bereits erwähnt, mit denen ich als Reichskanzler zu kämpfen hatte,
als ich mehr als einmal Wilhelm II. für einen Versuch der Heranziehung
von Parlamentariern für leitende Staatsstellen gewinnen wollte. Die ver-
schwindend kleine Zahl von Parlamentariern, die im früheren Deutschland
Minister geworden sind, bestätigen als Ausnahmen nur die Regel.
Die Mitschuld
des alten
Systems