WILHELM I. UND SEIN ENKEL 327
Gefühl als mit dem Verstand, durch und durch Royalist, preußischer
Royalist. Er hatte als junger Mensch noch vor König Friedrich Wilhelm III.
gestanden, hatte viel über ihn gehört, den nüchternen, einsilbigen, pflicht-
treuen, vorsichtigen Regenten, der im Infinitiv sprach, aber keine Dumm-
heiten sagte, der nach Jena und Tilsit nicht verzweifelte und nach Leipzig
und Waterloo nicht übermütig wurde. Bismarck war Friedrich Wilhelm IV.
nähergetreten, der phantastisch und unstet war, auch nicht ganz zuverlässig,
aber ein Mann von edlem Herzen und tiefer Bildung. Bismarck hat sich
oft, allzu oft, mit dem Kronprinzen, dem nachmaligen Kaiser Friedrich,
gestritten. Aber er wußte, noch mehr als er dies zeigte, dessen ritterliches
Wesen, dessen Lauterkeit und Herzensgüte, dessen vollkommene Furcht-
losigkeit zu schätzen. Fürst Bismarck hatte vor allem in fast dreißig-
jährigem Zusammenarbeiten mit Wilhelm I. einen Fürsten, einen König auf
Herz und Nieren geprüft, der wie kaum ein anderer echte Vornehmheit mit
innerer Bescheidenheit, strenges Pflichtgefühl mit zarter Güte verband, der
nie indiskret, nie taktlos war, der nie vergaß, daß er der König war, und der
seine Stellung doch nie mißbrauchte, der nie undankbar war und nie rach-
süchtig, dessen heldenmütige Tapferkeit, dessen hochgerpanntes nationales
Ehrgefühl und dessen treue arbeitsame Pflichterfüllung im Dienste des
Vaterlandes und dessen Liebe zum Vaterland Fürst Bismarck wenige
Stunden nach dem Hinscheiden des alten Kaisers mit Recht vor dem
Reichstag in einem unsterblichen Nachruf rühmte. Den Enkel dieses
wahrhaft großen Kaisers, den Kaiser Wilhelm II., kannte Fürst Bismarck
im Grunde nur ziemlich oberflächlich. Er fand sich nicht zurecht mit diesem
eigenartigen Regenten, er konnte sich nicht hineindenken in diesen
preußischen König, der von seinem Vater nicht viel, der von seinem Groß-
vater garnichts, von seinem Urgroßvater auch nichts, der von seiner Mutter
manches, der dalür zu viel, allzu viel von seinem Großonkel, dem Herzog
Ernst II. von Koburg, geerbt hatte. Die Charakteristik, die der große
Kanzler im dritten Band seiner „Gedanken und Erinnerungen“ von
Wilhelm II. entwirft, zeigt, daß er, den ein Altersunterschied von vierund-
vierzig Jahren von diesem trennte, in dessen komplizierte Psyche nicht ein-
gedrungen ist. Eine Unreife, wie sie ihm bei Wilhelm II. begegnete, hatte er
nicht für möglich gehalten. Auf diesen König und Kaiser war Bismarck
nicht gefaßt, als er die Fundamente des neuen Deutschen Reiches legte. Aber
selbst wenn Bismarck, in Vorahnung des dritten deutschen Kaisers, die
kaiserliche Stellung weniger überragend gestaltet hätte, so würde es ihm
doch recht sauer geworden sein, dem Parlament, einem deutschen Parlament,
größere Rechte einzuräumen, der Demokratie, der deutschen Demokratie,
weiter entgegenzukommen. Seine Geringschätzung für den deutschen
Parlamentarier war in mancher Hinsicht nicht unverdient, aber sie ging