Die Fehler
Wilhelms II.
328 STATT DER EVYOLTTION DIE REVOLUTION
zu weit. In seiner Redlichkeit, aber auch in seiner Unbeholfenheit und seiner
Weltfremdheit erinnerte ihn der deutsche Parlamentarier an die beiden
Typeu des politisierenden Deutschlands, an den Professor und an den
Kreisrichter, die Bismarck vom ersten bis zum letzten Tage seines politischen
Lebens so wenig schätzte. Fürst Bismarck war der größte aller Junker, aber
er war ein Junker, ein märkischer Junker. Er war Edelmann vom Scheitel
bis zur Sohle, er war Offizier bis in die Fingerspitzen, preußischer Offizier.
Es war ein Unglück, daß Wilhelm II. sich nach der Entlassung des
Fürsten Bismarck nicht entschlossen hat, von nun an sich selbst zurück-
zuhalten, dagegen unsere politischen Zustände im liberalen und parlamen-
tarischen Geiste auszubauen. Statt dessen wiegte sich der junge Kaiser in
dem Wahn, daß er imstande sein würde, sein eigener Kanzler zu sein und in
Deutschland und vor der Welt die Rulle zu übernehinen, die Bismarck
achtundzwanzig Jahre mit echtem Genie und wahrer Größe gespielt
hatte. Es war auch ein Unglück, daß Wilhelm II. meine Absicht, nach
den siegreichen Reichstagswahlen von 1907 allmählich und vorsichtig,
aber stetig durch eine Reform des preußischen Wahlrechts, durch die
Ernennung von Parlamentariern zu Staatssekretären und Ministern ein
parlamentarischeres Regierungssystem zu ermöglichen und anzubahnen,
das Haupt unserer Mutter Germania mit einem reichlicheren Tropfen
demokratischen Öls zu salben, nicht verstand und, als ihm eine Ahnung
aufdümmerte, wohin ich ihn und das Land führen wollte, sich gegen mich
wandte und mit meiner Entlassung die von mir ins Auge gefaßte, ziel-
bewußte Evolution verhinderte. Statt der Evolution haben wir die Revo-
lution bekommen. Der Weltkrieg, zu dem es die Unfähigkeit Bethmanns
und seiner Mitarbeiter kommen ließ, endete, politisch jämmerlich geführt,
mit der Revolution, die uns nach außen mehr isulierte, als wir es je früher
gewesen waren, die uns im Innern desorganisierte und aus dem einst best
verwalteten Lande in Europa ein schlecht verwaltetes machte. Und doch
sollen und müssen wir auch in schwerster Zeit und in schwarzen Tagen
mit dem größten der Apostel, mit Paulus, sagen: „Wir haben allent-
halben Trübsal, aber wir ängstigen uns nicht: uns ist bange, aber wir ver-
zagen nicht!“
Blicken wir auf andere Völker: Es ist gerade hundert Jahre her, daß der
österreichische Staatskanzler Fürst Clemens Metternich, der damals nicht
nur Österreich, sondern in gewissem Sinne Europa regierte, der Cocher de
l'’Europe, wie man ihn nannte, feierlich erklärte, Italien sei kein Staat, es sei
auch keine Nation, es sei nur ein geographischer Begriff. Heute liegt die
habsburgische Monarchie zerschmettert am Boden. Italien ist eine Groß-
macht und hat alle seine nationalen Aspirationen verwirklicht. Frankreich
wurde vor einem halben Jahrhundert von uns besiegt, sein Kaiser gefangen.