SINKEN UND EMPORSTEIGEN 329
Es hat, indem es den Rat von Gambetta befolgte, möglichst wenig von der
Revanche zu sprechen, aber immer an sie zu denken, nicht nur, ich schreibe
es mit tiefem Schmerz nieder, seine Fahne auf dem ehrwürdigen Münster
aufgepflanzt, den Meister Erwin erbaute, es bedrängt uns am Rhein und an
der Mosel. Polen wurde vor hundertfünfzig Jahren zwischen drei Kaiser-
reichen, drei Großmächten geteilt, und es ist aus dem Grabe wieder-
erstanden, es beraubt und quält uns im Osten. Die Balkanvölker, die Serben
und Bulgaren, die Griechen und Rumänen, die Armenier wurden während
Jahrhunderten unterjocht, mißhandelt, massakriert. Sie haben ihren
früheren Zwingherrn überlebt. Im Leben der Völker ist alles in ständigem
Fluß. Die Völker sinken, aber sie steigen auch wieder empor.
Ich habe nach dem Abschluß der Niederschrift meiner Erinnerungen die
Zeitepoche, in die Gott mein Leben gestellt hat, wiederholt an der Hand
dieser Aufzeichnungen an mir vorüberziehen lassen. Ich habe mich hierbei
bemüht, zu prüfen, ob ich in meiner Beurteilung des deutschen Volkes und
der Männer, die seine Geschicke vor und nach meiner Amtszeit führten,
gerecht gewesen bin, ob ich nicht die Zeit, in der ich die Politik des Reiches
geleitet habe, mit weniger kritischen Augen betrachtet habe als die Epoche,
die nach mir kam, die zum Weltkrieg führte und mit dem Niederbruch
endigte. Ich bin bestrebt gewesen, mich bei dieser Selbstprüfung innerlich
von dem Erlebten und Geschauten loszulösen, es objektiv abzuwägen, es
von höherer Warte zu betrachten. Der Lebensweg, auf den ich zurück-
schaue, macht es begreiflich, daß die Freude an der großen Vergangenheit
überwiegt, daß die Schatten der Gegenwart schwer auf mir lasten. Meine
Erinnerungen, nach rückwärts durch das geistige Erbteil erweitert, das
mein Vater mir übertrug, umfassen die Zeiten, da das deutsche Volk uneinig
nach innen und ohnmächtig nach außen war, sie umfassen die Schöpfung
des Reiches und die Einigung der Nation als Frucht beispielloser mili-
tärischer und politischer Erfolge, sie umfassen die Jahrzehnte, in denen das
deutsche Volk in friedlicher Ruhe seine wirtschaftlichen Kräfte entwickelte,
seine Stellung in der Welt mehrte, sein nationales Empfinden verstärkte, sie
umfassen endlich die Jahre, in denen Deutschland nach ruhmvoller Abwehr
der gegen uns vereinigten Welt zusammenbrach.
Mein Vater, der mir in meiner Knabenzeit ein sorgsamer Erzieher und
Geistesbildner gewesen, in reiferen Jahren beratender und belehrender
Freund geworden war, hatte im Anstieg des Lebens noch das schwache
Deutschland gekannt, er hatte als Mann in der Fülle der Kraft das Jahr 1848
und damit einen Tiefpunkt der neuen deutschen Geschichte erlebt. Er hatte
auf der Höhe des Daseins Bismarck nähertreten, hatte dem Großen bald
nach Gründung des Reiches als Staatssekretär und vertrauter Mitarbeiter
zur Seite stehen dürfen. Aus dem reichen Schatz der Erinnerungen dieses
Rückschau