Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

Adolf Wagner 
Schulze- 
Gaevernitz 
350 SOZIALPOLITIKER 
Adolf Wagner, ein Franke, in Erlangen geboren, seit 1870 Professor in 
Berlin, langjähriger Vorstand des Vereins für Sozialpolitik, war, wie man 
sich damals ausdrückte, ein Kathedersozialist. Ich hatte vierunddreißig 
Jahre früher mein diplomatisches Examen vor ihm bestanden, und er hatte 
damals meine Arbeit über die italienischen Finanzen sehr freundlich zen- 
siert. Jetzt schrieb er mir: „Euer Durchlaucht bitte ich, auch von mir den 
Ausdruck des tiefsten Bedauerns entgegenzunehmen, daß Sie aus den hohen 
Ämtern, welche Sie so vortrefflich im Nationalinteresse verwaltet haben, 
nunmehr geschieden sind. Die Parteikonstellation im Reichstag, welche Sie 
zu dem Schritt der Bitte um Entlassung bei Seiner Majestät geführt hat, 
ist für jeden deutschen Patrioten schmerzlich. In den Kreisen der Vertreter 
der Wissenschaft ist das der allgemeine Eindruck der jüngsten Vor- 
gänge. Wir werden alle Eurer Durchlaucht in aufrichtigster Ergebenheit 
verbunden bleiben.“ 
Gerhart von Schulze-Gaevernitz war der Sproß einer alten Ge- 
lehrtenfamilie, deren Söhne seit länger als einem Jahrhundert Theorie und 
Praxis in einer für deutsches Professorentum so ehrenvollen wie charak- 
teristischen Weise zu verbinden verstanden haben. Friedrich Gottlob — 
in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Professor in Jena — 
gab der Landwirtschaftslehre ein nationalökonomisches Fundament. Der 
Kronsyndikus Hermann war in der Bismarckzeit ein namhafter Staats- 
rechtslchrer. Mit dessen Sohn Gerhart, Professor der Nationalökonomie in 
Freiburg i. Br. und gleichzeitig praktischer Landwirt in Schlesien, hatte ich 
manches für mich anregende und belehrende Gespräch über wirtschaftliche 
und politische Fragen geführt. Jetzt schrieb er mir: „Ich fürchte, daß 
heute nicht allzu viele Zeitgenossen sich des großen Gehaltes an Zukunft 
bewußt geworden sind, welche einem schärfer blickenden Auge die Ge- 
schichte Ihrer Amtsführung enthüllt. Was vor zehn Jahren Utopie er- 
schien, ist heute — nicht zum wenigsten dank der Tätigkeit Eurer Durch- 
laucht — vielleicht noch schwere, aber nicht mehr hoffnungslose Aufgabe. 
Ich denke dabei an Tatsachen. Erstens: Vor zehn Jahren war es wilde 
Utopie, von einer Zeit des maritimen Gleichgewichtes zu träumen, in der 
Deutschland der hoffnungslosen Abhängigkeit von England in allen über- 
seeischen Wirtschafts- und Machtfragen entwachsen sein würde. Heute ist 
es unsere bewußt verfolgte Aufgabe, auch zur See durch eigene Stärke 
unser Dasein zu bejahen. Wir dürfen hoffen, unseren britischen Vetter aus 
dem so verführerischen Angriffsgedanken zu entstricken und — in Frieden — 
jener Anerkennung und Förderung unserer überseeischen Interessen zuzu- 
führen, wie er sie heute etwa den Vereinigten Staaten entgegenbringt. Euer 
Durchlaucht waren der gewichtige Vertreter und der beredte Förderer 
dieses ‚zum Frieden starken Deutschlands‘, wie es sich im Volksbewußtsein
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.