HISTORISCHE PERSPEKTIVEN 29
intensiver, innerlicher Widerwille gegen alles Widernatürliche beigetragen
haben mag.
Ich antwortete Eulenburg: „Lieber Phili, Dein in Bern erhaltener Brief
hat mich sehr bewegt. Aufrichtig und groß ist die Verehrung, die ich für
Deine teure Mutter und Deine liebe und treffliche Frau empfinde. Herz-
lichen Anteil nehme ich an dem Ergehen Deiner guten Kinder. Während
langer Jahre waren wir in treuer Freundschaft verbunden. Wie könnte ich
ohne Mitgefühl sein für Deine Leiden! Was möglich war innerhalb der
Grenzen, die mir die Pflicht meines Amtes zog, habe ich getan, um die tief-
traurigen Vorgänge zu verhindern, die mir auch menschlich zu Herzen
gingen. Ich habe getan, was ich vermochte, um Deine Lage zu mildern. Ich
hoffe von Herzen, daß die Liebe der Deinen Dich tröste und der Gedanke
Dich stärke, wie die göttliche Güte und das göttliche Erbarmen größer sind
als alles Elend auf dieser armen Erde. Ich habe ein schweres Jahr hinter
wir. Von Kindheit an in den Sielen und während zwölf Jahren in ununter-
brochener Anspannung, bedarf ich jetzt des Ausruhens und der Erholung.
Ich habe als Aufenthaltsort Rom gewählt, weil die großen historischen Per-
spektiven dieser Stadt zu philosophischer Betrachtung leiten und die ge-
schichtlichen Studien begünstigen, die mich immer angezogen haben. In
Rom ist alles große Vergangenheit, und deshalb entrückt diese Stadt der
Gegenwart. Ich lese viel. Ich habe im Sommer die sechs Bände von Gorce:
Histoire du second Empire, gelesen und bin jetzt an das noch dickleibigere
Werk von Gregorovius über die Geschichte Roms im Mittelalter gegangen.
Ich lese auch wieder die Alten: Virgil, Sallust, vor allem Tacitus und Homer.
Ich habe die Klassiker immer besonders geliebt, und hier, an ihrer Wiege,
werden sie mir noch lebendiger. Goethe sagte einmal, erst am Mittelmeer
habe er Odyssee und Ilias verstanden. Das kann ich ihm nachfühlen. —
Meine Schwiegermutter ist schon achtzig Jahre alt. In ihrem hohen Alter
ist sie dankbar, für die ihr noch vergönnte kurze Lebensspanne ihre Tochter
in ihrer Nähe zu haben. Meine Frau ist müde von dem zwölfjährigen, un-
ruhigen und aufreibenden Treiben, das von einer (sogenannten) hohen
Stellung in der Reichshauptstadt nun einmal unzertrennlich ist. Sie will
hier gar nicht weltlich leben. Sie sucht die Freude wie den Trost unserer
irdischen Tage im Unpersönlichen, in Musik und Gärtnerei. Das Wicder-
sehen mit Alfred und den Seinigen war sehr rührend. Die große Trauer, die
durch den Tod des Bräutigams ihrer ältesten Tochter über sie kam, ist noch
nicht von ihnen gewichen. Gott schütze die Deinigen und gebe Dir Frieden.
Dein Bernhard B.“
Nachdem sich Philipp Eulenburg während der vielen Jahre, die zwischen
der Unterbrechung des wegen Meineids gegen ihn angestrengten Verfahrens
und seinem Tode liegen, nicht dazu hatte aufraffen können, die Wieder-