NICHT ESEL, NICHT SCHURKE 61
meiner Amtszeit. Du kannst Dir denken, welche Verachtung unter diesen
Umständen die Verleumdungskampagne in mir hervorruft, die gegen mich
in Szene gesetzt worden ist. Diese Verachtung überwiegt auch die nicht
weniger begreiflichen Gefühle der Frbitterung und des Zornes über so viel
Niedertracht und so ungeheure Dummheit. Sohn eines Diplomaten, von
Jugend auf selbst Diplomat, Gesandter, Botschafter, Staatssekretär,
Reichskanzler, während zwölf Jahren Leiter unserer auswärtigen Politik,
soll ich nach den konservativen Blättern die gefährliche Wirkung des
bedenklichen Teiles des Interviews nicht vorausgeschen haben. Nach
Herrn Erzberger und den klerikalen Blättern soll ich absichtlich eine
Situation herbeigeführt haben, die das Land im Innern und nach außen in
die schwierigste Situation und mich selbst als Reichskanzler in die
unbequemste und gefährlichste Lage brachte, in der sich ein Minister
befinden kann. Nein! Ein solcher Esel bin ich nicht und ein Schurke auch
nicht. Welch ein Schauspiel würde es sein, wenn den durchschlagenden und
ganz unwiderleglichen Erklärungen, die ich kürzlich dem Kanzler gegeben
habe, Hofklatsch und Hintertreppenerzählungen entgegengehalten würden,
welche Nahrung würde daraus das Gerede über Kamarilla und Persönliches
Regiment ziehen! Mein Patriotismus und meine Königstreue lassen mich
schweigen, aber nur deshalb schweige ich. Die Parteien sind egoistisch. Der
blauschwarze Block will das Odium für den wenig günstigen Ausgang der
Reichsfinanzreform nicht tragen und auch nicht die volle Verantwortung
für meinen Rücktritt. Das Zentrum will nicht im Lichte niedriger Rach-
sucht dastehen, die Konservativen nicht als diejenigen, die einen um Land-
wirtschaft und konservative Interessen verdienten Kanzler zum Rücktritt
gezwungen haben. Deshalb suchen die Parteien das Odium auf die Krone
abzuladen. Das sind die Motive der Verleumdungskampagne, von der Du
sagst, daß sie Dich mit Widerwillen erfüllt. Es war mir ein Bedürfnis, Dir
gegenüber meinem Herzen Luft zu machen, wo uns eine so alte Freundschaft
verbindet und weil Dein Brief mir tiefes Verständnis zeigt. Wir werden uns
freuen, bei unserer Durchreise nach Rom bei Dir zu essen, und hoffen sehr
auf Deinen Besuch in Rom. Immer Dein treu ergebener Bülow.“