Reise Bülots
nach Bern
64 „ICH BIN NICHT UNDANKBAR"
Wilhelms I., die Schwester des Kaisers Friedrich, mich in das Nieder-
ländische Palais zu sich bitten ließ. Mit der Würde und Hoheit, aber auch
mit der edlen Gesinnung und Herzensgüte, die ihr eigen waren, sagte sie zu
mir: „Es ist mir cin Bedürfnis, als Tochter meines Vaters und Schwester
meines Bruders, Ihnen zu danken für die treuen und ausgezeichneten
Dienste, die Sie während zwölf Jahren Preußen und dem königlichen
Hause wie dem Deutschen Reich geleistet haben. Ich werde diese Dienste
und Verdienste niemals vergessen.“ Die erlauchte Frau hatte viel zu viel
Taktgefühl, als daß sie die Differenzen zwischen ihrem kaiserlichen Neffen
und mir berührt hätte. Nur beim Abschied, als sie mir die Hand zum Kusse
reichte, meinte sie, indem sie das Wörtchen „ich“ betonte: „Ich bin nicht
undankbar.“
Wenige Tage nach jener glänzenden Soiree im Potsdamer Neuen Palais,
mit der Wilhelm Il. den zweiundfünfzigsten Geburtstag seiner Gemahlin
feierte, führte mich der Schnellzug von Berlin nach Bern, wo mein Bruder
Alfred seit einem Jahrzehnt das Deutsche Reich bei der Schweizer Eid-
genossenschaft vertrat. Das Wiedersehen mit ihm trug dazu bei, mich in
ruhiger und gefaßter Stimmung zu erhalten und zu befestigen. Mein
Bruder war eine im wahren Sinne religiöse Natur. Mein Rücktritt erschien
ihm alles in allem als eine glückliche Wendung für mich, für die ich Gott
dankbar sein müsse. Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt
gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Solchen Gefahren setzte
nach seiner Meinung jede hohe Stellung nur zu leicht ihren Inhaber aus.
Mein Bruder erfreute sich durch seine unbedingte Zuverlässigkeit,
seine aufrechte Art und sein gemütvolles Wesen großer Achtung und Be-
liebtheit bei den kernigen und biederen Eidgenossen, die gerade diese
Eigenschaften und solche Naturen zu schätzen wissen. Als einmal zwischen
Deutschland und der Schweiz in der Gotthard-Frage Differenzen entstanden
waren, empfahl ein Vertreter des Schweizer Bundesrats im Nationalrat die
Erfüllung der deutschen Wünsche damit, daß der Gesandte von Bülow sie
vertrete, von dem der Bundesrat überzeugt wäre, daß er ein gerecht
denkender Mann und ein guter Freund der Schweiz sei. In der nach-
bismarckischen Zeit machte sich, noch dazu unter gotteslästerlicher Be-
rufung auf Bismarck und unter dem Einfluß der Allüren und der Wesensart
Wilhelms II., bei uns die Auffassung breit, es sei gar nicht die Aufgabe des
deutschen Auslandsvertreters und nicht einmal wünschenswert, daß er sich
auf seinem Posten beliebt mache. Unserem klugen und geschickten Bot-
schafter bei den Vereinigten Staaten, dem Baron Speck von Sternburg,
wurde seine Popularität in Amerika geradezu zum Vorwurf gemacht. Ein
deutscher Vertreter, hieß es, möge, statt auf Beliebtheit auszugehen, lieber
danach trachten, mit drohend gerunzelter Stirn und gelegentlich mit