Indien. 11
es selbst nie dahin gebracht, daß sich ihre Stämme zu einer Nation ver-
einigten und die ganze Halbinsel ein indisches Reich bildete. Eine eigent-
liche Geschichte haben sie nicht; denn die meisten Stämme besitzen keine
schriftlichen Aufzeichnungen, sondern nur dunkle und vielfach verwirrte
Sagen, und die Bücher der Braminen, der Priester jener Stämme des
indischen Volkes, das die eigenthümlichste Entwicklung erreichte, sind
größtentheils ein Gewebe von Mthen; die beglaubigte Geschichte scheint
nicht über 800 Jahre vor Christus hinaufzureichen. — Indische Reiche
gab es einige Jahrhunderte vor Christus mehrere; eines derselben soll
noch nordöstlich von ihrem Stammlande, auf der großen mittelasiatischen
Hochebene, unter dem Namen Kusthana bestanden haben. Andere König-
reiche waren im Lande der fünf Ströme: Indus, Hydaspes, Acesines,
Hyarotis, Hyphasis (indisch Pantschanada, bei den Griechen Pentapota-
mia, heutzutage englisch als Pendschab) ohne braminische Einrichtungen
und deßwegen als nicht ebenbürtig betrachtet. Auch im schönen Gebirgs-
thale von Kashmir (indisch Kasjapamura) war ein uraltes Fürstenthum
und an dem untern Laufe des Indus das Reich der Aratta (Adraistä).
Das mächtigste von allen war das der Prasier (indisch Pratsja) mit der
Hauptstadt Patalipotra, im eigentlichen Gangeslande. Am oberen und
mittleren Laufe des Ganges ist der eigentliche Schauplatz des Braminen=
volkes; dort lagen oder liegen noch in ihren Trümmern die uralten Kö-
mgsstädte Hastinapura, Indroprasiha, Mathura.
Meligion. Kastenwesen.
Die ursprüngliche Religion der Arier war eine Naturreligion; sie
verehrten Varuna, den Gott des obern Himmels, Indra, den des untern
Himmels, der mit dem Blitz die Wolken spaltet und den befruchtenden
Regen sendet, Hagni, den Gott des Feuers, Erde, Sonne, Mond und
Gestirne, Winde 2c. .; im Laufe der Zeit aber wurde diese Naturreligion
von den Braminen zu einem außerordentlich zusammengesetzten spekula-
tiven System umgebildet.
Nach der Lehre der Braminen war ein Urwesen, das alle Keime
der Geister= und Körperwelt in sich enthielt und aus dem alles hervor-
ging: zuerst die Götier Brama, der schaffende Gott, dann Vishnu, der
erhaltende, und Shiwa oder Mahadewa, der zerstörende. An sie reihen
sich unzählige Götter und Göttinnen, welche alles Wesen durchdringen
und bewegen; denn alles ist göttlicher Natur, weil hervorgegangen aus
dem göttlichen Urwesen. Diese ganze Welt mit Himmel und Erde, mit
Göttern, Menschen, Thieren, Pflanzen, den Elementen, Metallen und
dem verschiedenen Gestein, wird einst, wenn das letzte (setzige) Zeitalter,
Kalijuga, in dem alles mehr und mehr entartet, vollendet ist, zu Grunde
gehen und nichts übrig bleiben, als jenes Urwesen, das die Keime aller