224 Das heilige römische Reich deutscher Nation.
nungen, Mauern und Walle; wir spätgeborene Enkel schauen staunend
an ihnen empor, indem wir kaum wissen, was wir mehr bewundern
sollen, ob die gewaltige Größe des Baues oder die Kunst und Zierlich-
keit der einzelnen Theile. Diese Baukunst wird die gothische genannt,
sie sollte aber die deutsche heißen, weil sie in unserem Vaterlande aus-
gebildet worden ist. Ein solcher christlicher Dom hat nicht die entfern-
teste Aehnlichkeit mit einem der schönen griechischen Tempel. Unter
unserm Himmel, wo der Sturm so oft den Regen oder Schnee jagt,
durften keine Säulenhallen das Dach des Tempels tragen, da mußten
Mauern schützen und das Sonnenlicht durch Fenster das Innere er-
leuchten. Das Kirchendach durfte nicht in einem stumpfen Winkel zu-
sammenlaufen, sondern in einem spitzen, sonst würden es die Schnee-
massen des Winters zusammendrücken, und je größer die Grundfläche
einer Kirche war, um so höher mußte auch das Dachwerk werden, und
dies hatte zur Folge, daß auch die Mauern hoch wurden, damit eine
Uebereinstimmung zwischen dem untern und obern Theile des Gebäudes
war; denn ein hohes Dach auf niederen Mauern beleidigt das Auge.
So strebte auch das Kirchenfenster empor, damit es genug Licht in die
Kirche gab und zu Mauer und Dach im richtigen Verhältnisse stand.
Zu diesem Aufwärtsstreben trug der Glockenthurm wesentlich bei; Glocken
können nicht in der Tiefe hängen, das gebietet schon die Natur des
Schalles, deßwegen stieg das anfängliche Glockengerüste als schlanker
Glockenthurm empor; so wirkten alle Verhältnisse zusammen. Auf diese
Weise hat unser nordischer Himmel selbst den alten Baumeistern eine
größere Kirche vorgezeichnet, aber was haben diese nicht aus den ge-
gebenen Verhältnissen entfaltet! Obne Zweifel haben sie an den Kirchen
Italiens und Frankreichs gelernt und wir sehen auch bei uns Kirchen
im romanischen oder byzantinischen Bausiyle, aber die volle Entwicklung
des gothischen gehört dem deutschen Norden an. Die Mönche haben die
ersten Grundzüge gegeben, von ihnen stammt auch die Symbolik des
Baues, denn alles hat Bedeutung und ist nicht bloß architektonisch auf-
gefaßt. Später bildete sich die strenggeschlossene Genossame der „Maurer“,
und dieser verdanken wir die Aufführung der Wunderbauten, die nur
der Reichthum und das Hochgefühl der Stadtbürger möglich machte, wie
denn üÜberhaupt große Kirchen bloß in großen Städten entstehen konnten.
Man nannte die christliche Welt Kirche, und ein Bild der chrestlichen
Welt sollte ein solcher Kirchenbau darstellen. Wie die christliche Kirche
selbst steht er auf unerschütterlichem Fundamente und ist für die Ewig-
keit gegründet; seine Form ist die des Kreuzes, mit dessen Namen schon
Maulus seinen Glauben bezeichnet hat. Aufwärts von der dunkeln Erde
bebt der christliche Glaube den Menschen zum Himmel und dessen Lichte;
so schwingt sich auch das Gebäude von Stufe zu Stufe, von Bogen zu