Full text: Die Weltgeschichte. Zweiter Theil. Das Mittelalter. (2)

62 Das Christenthum unter den Germanen und Slaven. 
hätte einnehmen können, wodurch seine Wirksamkeit gelähmt worden 
wäre. Hätte ein armer Bischof am Hofe des Königs, in den Märzver- 
sammlungen und in den Reichstagen erscheinen können — würde er 
neben den stolzen Grundherren allein durch seine geistliche Würde die 
gebührende Achtung genossen haben? Wohl selten und theilweise gerade 
deßwegen, um solches Mißverhältniß zu beseitigen, dotierten die Mäch- 
tigen und Reichen die Bisthümer. Zudem war nur ein Theil des bi- 
schöflichen Einkommens für die Person des Bischofs bestimmt, ein anderer 
für die Bedürfnisse seiner Kleriker und Kirchen, ein dritter für die Armen. 
Daß großer Besitz mannigfaltige Gefahren hat, ist eine bekannte That- 
sache; der Inhaber verfällt gerne dem Stolze und der Genußsucht, und 
erregt bei anderen Neid und Begehren nach fremdem Gute. Zu jener 
Zeit hatte der reiche Besitz der Bisthümer und Abteien für manche 
Franken einen solchen Reiz, daß sie dieselben von dem Könige oder 
Hausmeier verlangten, wenn sie auch für den geistlichen Beruf nicht 
entfernt eine Neigung verspürten. Die merowingischen Könige und noch 
mehr die ersten Karolinger vertheilten deßwegen die Stifte oder den 
Genuß von deren Gütern an vornehme und tapfere Franken als Gunst 
und Dank (Laienäbte, Abtgrafen), oder sie zogen die Güter geradezu 
für sich selber ein, waren wohl auch von Karl Martell zu solchen Ein- 
griffen genöthigt, nur die vornehmen Kriegsleute für den Dienst zu be- 
lohnen. Was unter solchen Umständen und bei den fortdauernden 
Kriegen aus dem niederen Klerus werden mußte, läßt sich leicht denken; 
er verwilderte und das Volk noch mehr. Deßwegen eiferte St. Boni- 
facius, durch päpstliche Schreiben unterstützt, auf den Koncilien besonders 
gegen jenen Mißbrauch der Kirchengüter und setzte es auch wirklich 
durch, daß die eingezogenen Kirchengüter herausgegeben, unwürdige Bi- 
schöfe und Priester entlassen und die strengeren Verordnungen der kirch- 
lichen Disciplin eingeschärft wurden. Namentlich wurde der Kriegslust, 
welche manchem Prälaten damaliger Zeit als dem Sohne kriegerischer 
Geschlechter angeboren war, Einhalt geboten; so war z. B. der Vor- 
fahre des St. Bonifacius auf dem bischöflichen Stuhle zu Mainz ein 
adeliger Franke, dessen Vater gegen die Sachsen geblieben war; der 
Bischof zog deßwegen bei einem neuen Kriege mit aus, ließ den Sachsen, 
der seinen Vater erschlagen hatte, zu einer Unterredung einladen, tödtete 
ihn und vollstreckte so die Blutrache, wofür er abgesetzt wurde, was ihm 
vor dem Auftreten des St. Bonifacius gewiß nicht widerfahren wäre. 
St. Bonifacius ein Begründer der deutschen Nationalität. 
Indem Bonifacius in Deutschland die Kirche erbaute, legte er zu- 
gleich die Grundsteine zu der deutschen Nationalität. Es gab damals 
kein deutsches Volk, es gab nur deutsche Stämme, von denen keiner den
	        
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