Die neue Philosophie. 263
Mittelalter eine großartige Wissenschaft sich entwickeln sehen, aber die
Wahrheiten der christlichen Religion glänzten als die ewigen Sterne,
nach welchen die Forschung steuerte, ihre Ergebnisse fanden das Urtheil
in der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit den Lehren der
Kirche, und der christliche Gehorsam wies sie zurück, wenn die Kirche
das Urtheil gesprochen hatte. Die neue Philosophie, die sich von der
christlichen Religion weder die Richtung geben ließ, noch ihre Ergebnisse
dem Urtheile derselben unterwarf, sie, für die nichts da war, als die
geistige und sinnliche Welt, wie sie erscheint, mußte deßwegen schaffen,
d. h. ein neues Gebäude des Wissens und Glaubens aufstellen. Von
diesen Baumeistern errichtete nun jeder nach Maßgabe seiner geistigen
Kraft sein eigenes System, und wie in der alten klassischen Zeit erstan-
den verschiedene philosophische Systeme oder Schulen, z. B. des Des-
kartes, Spinoza, Leibniz, Wolf, Kant u. s. w. Jedes ist von
den anderen verschieden, zum unwiderleglichen Beweise, daß keines dem
Menschen eine Gewißheit über die höchsten Fragen gibt, so daß der
Mensch, wenn er auf sie angewiesen wäre, im gleichen Dunkel wandelte,
wie die Philosophen der vorchristlichen Zeit. Die Philosophie wurde
und wird vielfach gleichbedeutend mit Unglauben genommen; dies ist
unrichtig, denn auch der Philosoph kann sich vor der Autorität der ge-
offenbarten Religion beugen, wenn er einen Versuch mehr gemacht hat,
mit der Vernunft allein das große Räthsel alles Daseins zu lösen. Aber
es gab allerdings viele sog. Philosophen, deren Streben weniger darauf ge-
richtet war, ein Gebäude des Wissens aufzuführen, als den Glauben an
die Wahrheiten der geoffenbarten Religion und die durch dieselben geschaf-
senen Einrichtungen in Kirche, Staat und Leben zu zerstören. Andere
trieb nicht Feindseligkeit gegen das Christenthum, sondern sie stießen sich
an den biblischen Erzählungen und den geheimnißvollen Glaubenssätzen,
und nahmen für sich das Recht in Anspruch, das Ergebniß ihrer For-
schungen bekannt zu machen, so daß die Glaubensfreiheit ihre Spitze
erreichte in der Verkündiguug des Zweifels oder des Unglaubens. In
England trat die Philosophie des Zweifelns und Leugnens zuerst offen
hervor (neu ist sie nicht, sie fehlte in keinem Jahrhundert der christlichen
Zeitrechnung und wird nie fehlen), sie wandte ihre Thätigkeit gegen die
historische Glaubwürdigkeit des alten und neuen Testaments, zum Theil
auch gegen den Charakter der Personen, welche als Werkzeuge der
Offenbarung erschelnen; damit wollte sie nun beweisen, daß eigentlich
gar nie eine Offenbarung stattgefunden habe und daß die Menschheit
immer sich selbst überlassen sei. Die hauptsächlichsten Vertreter dieser Rich-
tung waren der Graf Shaftesbury, Tindal, Kollins, Toland,
Chubb und Lord Bolingbroke, der geistreiche und gewissenlose poli-
tische Gegner Marlboroughs, der keine edlere Triebfeder des menschlichen