Die neue Philosophie. 265
für gut, sie zu unterstützen, und die Volksmasse war einfältig genug,
daran zu glauben; verschmitzte Herren und Priester haben noch immer
zusammengeholfen, um durch die Religion das Volk im Zaume zu halten
und sich dadurch ihre irdischen Vortheile zu sichern.“ Ist so einmal der
Glaube an die Wahrheit der christlichen Religion verloren, so wird die
Geschichte der christlichen Völker, deren Heranbildung hauptsächlich das
Werk der christlichen Religion ist, nicht mehr verstanden; denn jede
Thätigkeit der Kirche wird zum voraus als das Ergebniß einer schlauen
Berechnung aufgefaßt, oder im besten Falle werden die „frommen“
Päpste, Bischöfe, Kaiser, Könige, Herren und gemeine Leute als Men-
schen dargestellt, die in einem geheiligten Wahne ihre Stärke und Ruhe
fanden, ihm folgend stritten, duldeten, gehorchten und opferten. So ver-
wandelt sich dann die Geschichte trotz aller Gelehrsamkeit und alles Scharf-
finnes der Geschichtschreiber in einen Spiegel, welcher durch die Abnei-
gung oder Feindsellgkeit gegen die christliche Religion so zugeschliffen ist,
daß er keine Person und keine Begebenheit, die zu der Kirche in einer
Beziehung steht, im unentstellten Abbilde wiedergibt. Dies ist auch durch-
schnittlich der Charakter der Geschichtswerke jener Zeit, in deren Reihe
Gibbons Geschichte von dem Sinken und Fallen des römischen Reiches
den obersten Rang einnimmt.
Der christliche Staat konnte begreiflich vor dem philosophischen Rich-
terstuhle seinen Anklägern nicht genügend antworten, um so weniger, als
die meisten Regierungen der damaligen Zeit den Glauben der Völker an
ihre Rechtmäßigkeit geflissentlich erschütterten. Die Obrigkeit ist von Gott,
die Staatenordnung nicht Erzeugniß menschlicher Spekulation und nicht
der Willkür des Stärkern unterworfen, lehrt das Christenthum; mit der
Leugnung der anderen christlichen Lehren mußte aber auch diese fallen.
Die neue Philosophie lehrte: „auch die Menschen sind ursprünglich als
Bestien herumgelaufen, nur daß sie die meisten Anlagen hatten, etwas
mehr als Elephanten, Biber und Affen. Diese Anlagen entwickelten sich
mehr und mehr, denn mit der Anzahl der Menschen vermehrten sich auch
die Bedürfnisse, die freundlichen oder feindlichen Verhältnisse zu einander,
und je weiter die Menschen sich ausbreiteten, um so mehr sonderten sie
sich auch nach der Familienverwandtschaft in Gruppen oder Stämme. Da
mußte nun wohl auch Streit und Zwietracht entstehen, und bald genug
merkten sie, daß sie dadurch nur Schaden litten. Sie traten demnach zu-
sammen und vertrugen sich über einige allgemeine Rechte und Pflichten; es
entstanden Eigenthum, Ehe, Familie. Die Volksstämme wuchsen mehr an,
sie kamen in feindselige Berührung, es gab Krieg; da mußte nun der
Volksstamm einen Anführer haben, dem alles gehorchte. Er gewann den
Sieg und dadurch hohes Ansehen und viele Freunde; das Befehlen be-
hagte ihm so wohl, daß er nach dem Krlege seine Gewalt nicht nieder-