VIII. Von den Landständen. 85
selbständige Verantwortlichkeit tragenden Staatsdiener
sind jeder innerhalb seines Wirkungskreises für die ge-
naue Beobachtung der Verfassung verantwortlich; die
Inanspruchnahme der Verantwortlichkeit erfolgt durch
die Erhebung der Ministeranklage, welche entweder einen
übereinstimmenden Antrag der beiden Kammern an den
Großherzog oder aber eine aus der eigenen Initiative des
Großherzogs hervorgehende landesherrliche Willensent-
schließung voraussetzt.1
Von besonderer Bedeutung ist das ständische Be-
schwerderecht durch seine Verbindung mit dem in Art. 81
der Verfassungsurkunde näher geregelten Petitions-
recht. Das Petitionsrecht besteht in dem Rechte jedes
Einzelnen und jeder Korporation, sich wegen unrecht-
licher oder unbilliger Verletzung oder Beeinträchtigung
individueller Interessen an die ständischen Kammern zu
wenden. Macht nun jemand von diesem Rechte Gebrauch,
so kann dies den Ständen, falls sie die Petition nach
Einholung der ihnen zu erteilenden amtlichen Auskünfte
nicht als unbegründet verwerfen, Veranlassung geben,
von der oben geschilderten Befugnis der Beschwerde-
führung Gebrauch zu machen. Damit ist also jeder be-
liebigen Privatperson — eine Beschränkung des Petitions-
rechts auf Staatsangehörige oder gar auf Staatsbürger
im Sinne des Art. 14 HV. hat nicht stattgefunden —
die Möglichkeit gewährt, die ständische Kontrolle gegen-
über den Organen der Staatsverwaltung anzurufen;
gleichzeitig aber ist hiermit auch der Volksvertretung
eine Funktion von großer Wichtigkeit anvertraut.
1 Die Ministerverantwortlichkeit entbehrt einer modernen
Regelung. Vgl. hierüber Gareis S. 110; Cosack S. 50; Küch-
ler I S. 135 und insbesondere Esselborn, Die Ministerverant-
wortlichkeit im Großherzogtum Hessen, Leipzig 1902, Gieß. Diss.