Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Vierter Jahrgang. 1876. (4)

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7. Heimath-Wesen. 
Res judicata. Freie Würdigung der Beweise — Aussagen der in einem Vorprozesse vernommenen Zeugen. Wechsel 
der Gesetzgebung — Anwendbarkeit der Fristen des älteren oder des neueren Gesetzes. Ruhe des Laufes — Unter- 
stützung eines anderen Kindes derselben Mutter. 
Die unverehelichte, am 14. Januar 1844 geborene Maria G. ist am 25. August 1871 mit Hinterlassung 
von 2 unehelichen Kindern verstorben. Das Alter von 24 Jahren und die Fähigkeit einen eigenen Unter- 
stützungswohnsitz zu erwerben, hatte sie hiernach am 14. Januar 1868 erlangt. Für das ältere der beiden 
Kinder, Anna, welches am 14. Februar 1866 geboren ist, wurde zuerst am 3. Februar 1870 dem Vormunde 
eine von da an fortgewährte monatliche Unterstützung vorschußweise aus der Kreis-Kommunalkasse geleistet. 
Durch Resolut der Königlichen Regierung zu Gumbinnen vom 8. August 1870 wurde hierauf dahin ent- 
schieden, daß der Armenverband der Stadtkommune Ragnit verpflichtet sei, die Fürsorge für das Kind Anna 
zu Sehi auch die durch diese Fürsorge bis dahin dem Kreis-Armenverbande Nagnit erwachsenen Kosten 
zu erstatten. 
Gegen dieses Resolut hat Ragnit den Rechtsweg beschritten und die Verurtheilung des Kreis-Armen- 
verbandes Ragnit zur Uebernahme der Fürsorge für dieses Kind ,verlangt, ist aber durch die gleichlautenden 
Erkenntnisse des Kreisgerichts in Ragnit vom 12. April 1872 und des Appellationsgerichts in Insterburg 
vom 4. November 1872 abgewiesen.  
In beiden Erkenntnissen ist ausgeführt, daß die zur Zeit der eingetretenen Hülfsbedürftigkeit ihres 
Kindes noch nicht zu einem selbständigen Unterstützungswohnsitze gelangte Maria G. den Unterstützungs- 
wohnsitz ihrer Mutter, der Wittwe Erdme G., theile, welchen die letztere durch mehr als 3 jährigen, bis kurz 
vor ihrem Tode fortgesetzten Aufenthalt in Ragnit erlangt habe. 
Der mehr als dreijährige Aufenthalt der Wittwe Erdme G. in Ragnit ist dabei auf Grund der 
eidlichen Aussagen von 6 Zeugen, welche das erste Erkenntniß ausführlich rekapitulirt, konstatirt. 
Das ältere Kind Anna ist demgemäß auch von Ragnit in Pflege genommen und wird von Ragnit 
noch jetzt unterstützt. 
Das zweite Kind, Bertha, ist im Tahre 1870 (wie Verklagter angiebt, am 16. Februar 1870) geboren 
und wird von dem Armenverbande der Ortschaft Kindschen unterstützt, an welchem Orte es sich in der Pflege 
des Eigenkäthners R., eines Schwagers der Maria G., befindet. 
Der Ortsarmenverband Kindschen hat eine Klage gegen Ragnit erhoben, indem er ausführt, daß 
auch Bertha G. dem Unterstützungswohnsitze ihrer Mutter in Ragnit selbst dann folge, wenn die letztere 
vom 14. Januar 1868 — dem Tage ihrer Großjährigkeit — bis zu ihrem am 23. August 1871 erfolgten 
Tode von Ragnit abwesend gewesen sein sollte, und beantragt, zu erkennen: 
1. daß Verklagter schuldig, die Bertha G. zur eigenen Fürsorge zu übernehmen, 
2. anzuerkennen, daß er verpflichtet, von dem Zeitpunkte, wo das Kind Bertha G. im Wege 
der öffentlichen Armenpflege bei R. untergebracht ist, bis zur definitiven Uebernahme dessel- 
ben den Kläger wegen der nothwendig gewordenen Aufwendungen zu entschädigen. 
Der Verklagte behauptet, daß die Wittwe Erdme G. nicht zwei Jahre in Ragnit gewohnt habe, 
hält die Vorerkenntnisse und die Aussagen der im Vorprozesse vernommenen Zeugen für das gegenwärtige 
Verfahren für gleichgültig, wendet ein, daß die Zeugen, deren eventuelle nochmalige Vernehmung der Kläger 
beantragt hat, nicht wissen können, welche der bunt durch einander liegenden Häuser zu dem städtischen, und 
welche zu dem ländlichen Theile der Ortschaft Ragnit-Preußen, in welcher Erdme G. gewohnt hat, gehörten, 
giebt an, daß Bertha G. erst vom 1. Juni 1872, d. h. nach erfolgtem Tode ihrer-Mutter der Armenpflege 
anheimgefallen sei, deduzirt daraus, daß sie einen Unterstützungswohnsitz ihrer Mutter damals nicht mehr 
theilen konnte, behauptet, daß Anna G. erst nach dem 14. Januar 1870, d. h. nachdem Maria G. schon
	        
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