Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Vierter Jahrgang. 1876. (4)

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Pflichtversäumniß der Armenbehörde sich darstellt. Nur wenn diese Bedingung zutrifft, 
kann von einem aus der Vorschrift des §. 28 cit. herzuleitenden Regreßanspruche die Rede sein. 
Wenn Kläger und Appellant statt dessen das Fundament der nützlichen Geschäftsführung (nego- 
tiorum gestio) heranziehen zu können glaubt, so übersieht er, daß die Zahlung einer Geldsumme 
unmöglich als ein nützliches Geschäft für denjenigen betrachtet werden kann, der zu solcher Zah- 
lung selbst nicht verpflichtet ist, der also durch das Nichtzahlen bezw. durch sein Nicht- 
handeln einer Pflichtversäumniß im Rechtssinne sich nicht schuldig macht. 
Hiervon ausgehend, war also im vorliegenden Falle zu beweisen, daß die Armenbehörde zu 
Biebrich den N., auch ohne daß ein hierauf bezüglicher Antrag vorlag, von Amtswegen in eigene 
Pflege hätte nehmen müssen. Diesen Beweis hat aber das Bundesamt als geführt nicht be- 
trachten können. » 
Der Dr. C. hat eidlich erklärt, daß er bei der vorgenommenen Untersuchung den N. 
körperlich vollkommen gesund und nur „geistig beschränkt“ gefunden habe; er habe daher dem 
Bürgermeister erklärt, daß er gar keinen Anstand fände, den N. allein nach Hause reisen zu 
lassen — wovon, wie 2c. C. hinzufügt, selbstverständlich keine Rede hätte sein können, wenn er 
denselben für geisteskrank hätte halten müssen. 
Es ist nun zwar dem Appellanten darin beizutreten, daß eine zur Erhebung der Klage 
aus §. 28 cit. berechtigende Pflichtversäumniß auch dann angenommen werden muß, wenn die 
Armenbehörde des betreffenden Orts auch nur bei Anwendung größerer Sorgfalt das 
Vorhandensein eines Armenpfkegefalles hätte wahrnehmen müssen und daß es zur Begründung 
einer solchen Klage nicht gerade des Nachweises eines direkten Dolus bedarf. 
Es mag überdies, was den vorliegenden Fall betrifft, ein Zweifel darüber nicht aus- 
geschlossen bleiben, ob nicht schon in Biebrich der Zustand des N. ein solcher gewesen sei, daß 
ein sofortiges Einschreiten hätte indizirt erscheinen können. Hierfür scheint die Aussage des 
Geheimen Sanitätsrath Dr. H. zu Frankfurt a. M. zu sprechen, welcher es für unbegreiflich 
erklärt, daß ein Arzt oder auch ein Laie die Geisteskrankheit des N. nicht auch am 4. Mai schon 
hätte entdecken sollen. 
Gleichwohl darf es, auch dieser Erklärung gegenüber, als notorisch bezeichnet werden, 
daß gerade der Zustand geisteskranker Personen nicht selten plötzliche Steigerungen erfährt, in 
Folge deren die eigentliche Krankheit sich äußerlich als nunmehr erst ausgebrochen darstellen 
kann. Diese Möglichkeit liegt hier um so eher vor, als die von dem Dr. H. zu den Akten 
überreichte Krankengeschichte seit der Aufnahme des N. in die Irrenanstalt zu Frankfurt a. M. 
eine sehr rapide Entwickelung des Uebels, das schon nach drei Wochen den Tod herbeiführte, 
erkennen läßt. N. hat in Biebrich bis zum 3. Mai als Geselle bei den Schuhmachermeistern 
L. und K., zuletzt bei K. gearbeitet und beide haben ihn, ihrer eidlichen Aussage zufolge, nicht 
für geisteskrank gehalten, wenngleich beide bemerken, daß er in der Arbeit nur sehr wenig ge- 
leistet habe. L., bei dem N. etwas über eine Woche, bis zum 1. Mai gewesen ist, hat ihn nur für 
etwas beschränkt gehalten und erklärt: er sei ein sehr ruhiger Mensch gewesen. Dem K., 
bei dem N. dann vom 1. bis 3. Mai gearbeitet hat, ist das Benehmen desselben allerdings auf- 
gefallen und er hat ihn wegen dieses Benehmens, namentlich aber, wie er sagt, deshalb fortge- 
schickt, weil derselbe fortdauernd am Sprechen war und über dem Gerede keine Arbeit vor sich 
brachte. Dem Bürgermeister zu Biebrich hat K., der Aussage des letzteren zufolge, mitgetheilt, 
daß seiner Ansicht nach N. das Heimweh habe. Der Zeuge D. will von K. die Aeußerung 
gehört haben, daß er, K., den N. für geisteskrank gehalten habe; K. selbst bestreitet dies 
aber ausdrücklich. 
Nach allem diesem kann das äußere Erscheinen des N. zu Biebrich noch ein solches ge- 
wesen sein, daß der Bürgermeister die Armenfürsorge für denselben noch nicht für geboten 
erachten dürfte. War dies der Fall, so war auch in der Weiterbeförderung des N. in der 
Richtung nach seiner Heimath zu, eine dem §. 28 cit. zuwiderlaufende Abschiebung nicht zu 
erblicken und mußte demgemäß so, wie geschehen, erkannt werden. 
 
	        
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