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A. Justiz-Wesen.
Erkenntniß des Reichs-Oberhandelsgerichts in der Prozeßsache der Kaiserlichen Ober-Postdirektion in
Schwerin, als Vertreterin des Reichsfiskus, Beklagten, jetzt Appellantin, wider die Wittwe und
Kinder des verstorbenen Postdirektors Reichardt, Kläger, jetzt Appellaten, wegen Zahlung des
Sterbequartals und der Gnadenquartale; vom 7. Oktober 1876. Rep. Nr. 677. (Zur Auslegung
des Artikels 18 der Verfassung des Deutschen Reichs und des §. 7 des Reichsbeamtengesetzes.)
Die Wittwe und Kinder des im Mai 1874 verstorbenen Postdirektors Reichardt zu Hagenow, welcher
bis 1868 Großherzoglich mecklenburgischer Postbeamter, dann in den Dienst des Norddeutschen Bundes und
später in den des Deutschen Reiches getreten war, forderten auf Grund des mecklenburgischen Gesetzes vom
28. März 1770, des Artikels 18 der Verfassung des Deutschen Reichs und des 8. 7 des Reichsbeamten—
gesetzes außer dem Sterbequartale zwei Gnadenquartale. Die Kaiserliche Ober-Postdirektion zu Schwerin hat
die Anwendbarkeit des Gesetzes vom 28. März 1770 verneint, ihre Entschließung ist durch Erlaß des Reichs-
kanzlers vom 7. Oltober 1874 gebilligt worden und haben deshalb die Wittwe und Erben den Rechtsweg
betreten. Die Großherzogliche Justizkanzlei zu Schwerin hat ihren Anspruch für begründet befunden und
das Rcichs-Oberhandelsgericht auf eingelegte Appellation das Urtheil bestätigt. Die Einwendungen der Be-
klagten und der weitere Sachverhalt ergeben sich aus den nachstehenden Gründen:
I. Die Appellantin bestreitet in ihrer Rechtfertigungsschrift nicht mehr, daß die hier in Frage kom-
mende mecklenburgische Konstitution vom 28. März 1770 ein gesetzgeberischer Akt sei (Seite 15,
21, 24); auch stellt sie sich auf den Standpunkt, daß der Artikel 18, Absatz 2 der Verfassung
des Deutschen Reichs allgemein so ausgelegt werden müsse, wie dies durch die Vereinbarung
mit Baden, Hessen und Württemberg vom 15. und 25. November 1870 geschehen ist; sie sucht
die in erster Instanz ergangene Entscheidung im Wesentlichen mit der Argumentation zu wider-
legen, daß die Sterbe= und Gnadenquartale (Seite 2, 56) kein schon in und mit der Anstellung
dem Beamten erworbenes, sondern nur ein beim Ableben desselben für die Hinterbliebenen
entstehendes Recht seien (Seite 33), daß demnach ein ohne Kränkung irgend welcher schon
erworbener Rechte des Beamten der Veränderung durch die Gesetzgebung fähiges Rechts-
verhältniß vorliege (Seite 36), somit, da der Artikel 18 Absatz 2 der Verfassung nur solche
Rechte gewährleiste, welche dem Beamten in seinem Heimathstaate zugestanden hatten, die hier
in Frage kommende bloße Erwartung der Hinterbliebenen der Abänderung durch die Reichsge-
setzgebung unterworfen war (Seite 34) und auch abgeändert worden sei, da der Vorbehalt (das
Amendement) in 8. 7 des Reichsbeamtengesetzes nur solche Ansprüche betreffe, welche dem Be-
amten vor Erlaß dieses Reichsgesetzes und vor seinem Eintritte in den Reichsdienst zuge-
standen worden. — Diese Argumentation ist jedoch gleich irrig in Bezug auf ihre Voraus-
setzung wie hinsichtlich der weiteren Begründung.
ll. Das mit der Anstellung im Staatsdienste und durch die Uebernahme des Amtes begründete
Rechtsverhältniß wird nicht blos durch das Anstellungspatent bestimmt, welches in der Regel nur
die allgemeine Zusicherung des Schutzes in den mit dem Amte verbundenen Rechten enthält,
sondern es ist jedenfalls betreffs der vermögensrechtlichen Ansprüche nach den eben diese
Rechte normirenden Gesetzen, nach der Dienerpragmatik, zu beurtheilen, welche als Inhalt der
Anstellungsurkunde anzusehen ist. Es trifft hier unzweifelhaft, wie bei jedem Vertrage, der
Rechtssatz zu, daß alle in der Urkunde nicht besonders vorgesehenen oder besonders ausgeschlossenen
Rechte und Verbindlichkeiten aus dem das betreffende Rechtsverhältniß oder Rechteinstitut regelnden
Gesetze zu ergänzen sind. „
Hat also die Konstitution vom Jahre 1770 ein Recht der Beamten begründet oder ge-
schaffen, so ist durch die Anstellung diese gesetzliche Verleihung ein besonderer Rechtstitel
für den einzelnen Beamten, damit aber auch ein wohlerworbenes Recht geworden. —
III. Es ist demnach zunächst zu untersuchen, ob der Bezug des sogenannten Sterbequartals und der
SGSEnadenguartale ein erst nach dem Tode des Beamten für dessen Hinterbliebene entstehendes,