Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

5 76a. Bisheriges Recht. 335 
gelangt, war im bisherigen Recht bestritten. Doch neigte Theorie und Praxis 
immer mehr dazu, die Frage im erstern Sinn zu entscheiden. 1 
Bestimmungen darüber, in welchen Fällen sich ein Antragsteller bei Vertragsverhand- 
lungen unter Abwesenden eine „stille“ Annahme seines Antrags gefallen lassen muß, waren 
im bisherigen Recht nicht aufgestellt.!“ Eine gesetzliche Frist, binnen deren der Antrag bei 
Vertragsverhandlungen unter Abwesenden angenommen werden mußte, widrigenfalls er von 
selbst erlosch, war nur im preußischen Recht und im Handelsrecht bestimmt.13 
6. a) Das mittelalterliche Recht huldigte einem strengen Formalismus 
und erklärte demgemäß grundsätzlich ein Rechtsgeschäft nur für gültig, wenn 
es unter Einhaltung bestimmter Formen abgeschlossen oder wenigstens von einer 
Partei tatsächlich erfüllt war. Gebräuchliche Formen waren: die feierliche Be- 
urkundung, die Erklärung vor rechtsförmlich zugezogenen Zeugen, die Hingabe 
eines Gottespfennigs oder einer Draufgabe u. dgl.1" 
b) Seit der Rezeption des römischen Rechts hielt man an dem mittel- 
alterlichen Formalismus nur noch vereinzelt fest; aber auch die römischen For- 
malitäten wurden nur zum kleinen Teil eingeführt. Das Ergebnis war, daß 
man sich sowohl im Gegensatz zu dem älteren deutschen wie im Gegensatz zum 
römischen Recht zu dem Grundsatz bekannte, die Vornahme der Rechtsgeschäfte 
könne vorbehaltlich der durch Gesetz oder Gewohnheit bestimmten Ausnahmen 
(Schenkung, Testament, Eheschließung usw.) formlos vor sich gehn.15 Nur das 
preußische Landrecht nahm eine abweichende Stellung ein, indem es bestimmte: 
I. Rechtsgeschäfte über Gegenstände im Wert von mehr als 50 Talern be- 
dürfen der Schriftlichkeit; II. ist ein Vertrag schriftlich beurkundet, so sind 
etwaige mündliche Nebenabreden selbst dann ungültig, wenn der Gegenstand 
des Vertrages weniger als 50 Taler wert ist.1 
7. Über die Behandlung der Wuchergeschäfte im bisherigen Recht f. 
unten § 120. 
8. Die Bedingungen und Befristungen wurden im bisherigen Recht, von 
Einzelheiten abgesehn, ebenso geregelt wie im bürgerlichen Gesetzbuch. 
9. Die Auslegung der Rechtsgeschäfte war im mittelalterlichen Recht eine 
formalistische: während das formlos geäußerte Wort ganz unverbindlich war, 
mußte das formgerecht geäußerte Wort sich eine buchstäbliche Auslegung ge- 
fallen lassen.!? Erst seit der Rezeption ist an die Stelle dieses Formalismus 
die „freie“ Auslegung der Rechtsgeschäfte getreten. 
10. Ob und inwieweit das mittelalterliche Recht Rechtsgeschäfte, die auf 
Simulation, Irrtum, Betrug oder Zwang beruhten, als ungültig behandelte, 
11) Windscheid-Kipp 1 S. 292. 
12) Siehe m. Lehrb. des Handelsrechts § 25. 
13) Pr. LR. I, 5 §§ 90 ff.; älteres HG. 319 ff. 
14) Sohm, Eheschließung (75) S. 24; Stobbe, Ztschr. f. Rechtsgesch. 13 S. 209; 
Franken, Gesch. des franz. Pfandrechts 1 (79) S. 209. 
15) L. Seuffert, z. Gesch., der oblig. Verträge (81). 
16) Pr. LR. I, 5 8§§ 131, 155, 128. Siehe auch c. c. 1341. 
17) Heusler 1 S. 60; Gierke, D. Pr. R. 1 § 3321,3.
	        
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