§ 78. Notwehr. Selbstverteidigung. 345
2. Siehe unten bei S. 346b das erste Beispiel. IV. 1. H. will nachts auf einer Leiter in das
Schlafzimmer der H. einsteigen, ohne böse Absicht, nur um sie zu necken; die J. hat aber
seinen Streich rechtzeitig gemerkt und zwei andre Mägde herbeigerusen; mit deren Hilfe
überrascht sie den H., als er glücklich bei ihr eingestiegen ist, bindet ihn und hält ihn die
Nacht über eingesperrt. Hier hat die J. die Grenzen der Notwehr überschritten und ist zum
Gegenangriff übergegangen. 2. Derselbe Fall; nur entdeckt die J. den H. erst, als er auf
der höchsten Stufe der Leiter steht und sich eben in ihr Fenster schwingen will; vergeblich
schreit sie ihm zu, er solle draußen bleiben; da stößt sie ihn gegen die Brust, daß er herunter-
stürzt und sich das Genick bricht. Hier ist die J. in den Grenzen der Notwehr geblieben,
auch wenn sie genau wußte, daß H. sich lediglich einen Scherz mit ihr erlauben wollte und
daß der Sturz von der Leiter ihm das Leben kosten konnte. V. K. sieht, wie L. in einer
öffentlichen Anlage dem Verbot zuwider über den Rasen läuft. Hier kann er den L. kraft
Notwehr mit Gewalt von dem Rasen fortjagen, und zwar selbst dann, wenn der angestellte
Anlagenwärter anwesend ist und nicht einschreitet, ja sogar dann, wenn der Wärter pflicht-
widrigerweise dem L. das Betreten des Rasens erlaubt hat. VI. M. hat dem N., als dieser
bei seinem Hause vorbeiging, ohne jeden Anlaß Schimpfwörter zugerufen; darauf tritt N.
in das Haus, um den M. zur Rede zu stellen. Hier kann M. den N., wenn er nicht frei-
willig geht, kraft Notwehr gewaltsam aus seinem Hause entfernen.
2. Der zweite Fall ist dem der Notwehr nahe verwandt und wird vom
bürgerlichen Gesetzbuch mit der Notwehr zusammen als Selbstverteidigung
bezeichnet. Er setzt voraus, daß jemandem durch eine fremde Sache Gefahr
droht. Alsdann ist es gestattet, zur Abwehr der Gefahr die Sache zu be-
schädigen oder zu zerstören (228).
a) Die Gefahr muß gerade „durch“ die Sache, um deren Beschädigung
oder Zerstörung es sich handelt, drohn. Nicht hergehörig ist also der Fall,
daß man eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um sich dadurch gegen
eine anderswo entspringende Gefahr zu schützen.
Beispiele. I. Wenn des Nachbarn Zaun sich über die Grenze neigt und meine Beete
zu beschädigen droht, wenn das Haus, das dem meinigen gegenüberliegt, in Flammen steht
und auch mein Haus in Feuersgefahr setzt, wenn ein fremdes mit meinen Pferden im
nämlichen Stall eingestelltes Pferd sich als ansteckend krank erweist, ist mir die Selbstver-
teidigung gegen die Mauer, das Haus, das Pferd gestattet. II. Wenn ich dagegen in Ge-
fahr des Hungertodes gerate, darf ich mich gegen diese Gefahr nicht dadurch verteidigen, daß
ich aus einem Bäckerladen ein Brot entwende und aufesse; wenn ich einen Selbstmörder ins
Wasser springen sehe, darf ich ihn nicht dadurch zu retten suchen, daß ich das Tau, mit dem
ein fremder Kahn am Ufer angebunden ist, zerschneide und alsdann auf dem Kahn dem
Ertrinkenden zu Hülfe komme.
Übrigens hat für Fälle wie die beiden zuletzt genannten das Gesetz in dem dem Eigentum
gewidmeten Abschnitt eine besondre Vorschrift (904) aufgestellt. Sie wird aber erst in der
Lehre vom Eigentum zu erörtern sein. Einstweilen sei nur bemerkt, daß diese Vorschrift
einer in Gefahr geratenen Person und einem hülfebereiten Dritten zwar ein Recht gibt,
zur Abwendung der Gesahr auf fremde Sachen „einzuwirken“, also auch diese Sachen zu
beschädigen oder zu zerstören, daß sie aber keineswegs besagt, dies Notrecht dürfe auch mittels
Eigenmacht gegen den Besitzer der Sachen ausgeübt werden. Abweichend geben freilich
manche dem Gefährdeten und sogar dem hülfsbereiten Dritten auch das Recht der Eigen-
macht.“ Indes würde der Gesetzgeber, wenn er dies gewollt hätte, die Vorschrift sicher in
den der Selbsthülfe oder dem Besitz gewidmeten Abschnitt des BGB.s und nicht in den Ab-
4) Endemann § 85 a, Za; Biermann, Kommentar z. BGB. Anm. 2 zu § 904; Liszt,
Deliktsobligationen S. 90.