98 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4.
2. Art. 4 enthält für die Bestimmung der Reichskompetenz noch
kein positives Recht, sondern nur ein Programm.
Allseitig anerkannt ist in der Praxis und Theorie, daß die durch
Art. 4 dem Reich eröffnete Gesetzgebungskompetenz nur fakultativ ist. So-
lange das Reich von seiner Befugnis, diese Gebiete gesetzlich zu regeln,
keinen Gebrauch gemacht oder wenigstens die Materie noch nicht ausschließ-
lich geregelt hat, gilt auf dem freigelassenen Gebiete das Landesrecht nicht
nur fort, sondern die Einzelstaaten können durch Gesetze und Verordnungen
— je nach dem geltenden Landesstaatsrecht — neue Bestimmungen er-
lassen; vgl. Art. 2 II, 2 S. 42 f. Auch besteht für das Reich nicht die
Verpflichtung, den Art. 4 alsbald oder binnen bestimmter Frist auszuführen.
Art. 4 enthält ein Programm, das der Ausführung durch Reichsgesetze be-
darf, um zur Geltung zu kommen und das entgegenstehende Landesrecht zu
beseitigen. Die Reichsverwaltung hat diesen Standpunkt stets festgehalten;
vgl. Staatssekretär des Innern v. Bötticher in der Reichstagssitzung v.
3. Juni 1896 St. B. 2394, ferner Staatssekretär des Innern Graf Posa-
dowsky-Wehner nach dem Bericht der Petitions-Kom. v. 14. April 1904
Anl. der 11. Leg.-Per. Sess. 2 Bd. 7 S. 5688 Nr. 601 und in den Reichs-
tagssitzungen v. 30. Jan. 1904 St.B. 620, v. 17. März 1905 St. B. 5351
und v. 24. Nov. 1906 St. B. 3890 .
Für den Umfang dieses Programms lassen die Verhandlungen, die
zur Gründung des Deutschen Reichs führten — soweit sie bekannt geworden
find — klar erkennen, daß der die Verhandlungen beherrschende Gedanke war,
nur diejenigen Staatsfunktionen auf das Reich zu übertragen, die nötig
waren, um die militärische Macht des neuen Reichs und seine wirtschaftliche
Einheit sicherzustellen. Im Interesse der möglichst vollständigen Erreichung
des letzteren Ziels sowie mit Rücksicht auf ideale Momente, die für die
Einheitsbestrebungen eine große werbende Kraft besaßen, war auch in Aussicht
genommen auf den meisten Sachgebieten Rechtseinheit herbeizuführen. Aber
alle Staatsfunktionen, die außerhalb dieser Ziele lagen, blieben den Einzel-
staaten grundsätzlich erhalten. Hierzu gehörten u. a. die gesamten direkten
Steuern, das Unterrichts= und Kultuswesen, soweit an letzteren der Staat
als Aufsichtsbehörde beteiligt ist, die Provinzial-, Kreis= und Gemeinde-
verfassung, die Justizverwaltung, die Polizei, die meisten Staatsbetriebe
wie Eisenbahnen, Bergwerke und Domänen u. a. Fürst Bismarck hat
den Gedankengang, der dazu führte, die Staatsfunktionen zwischen Reich
und Einzelstaaten wie geschehen zu verteilen, in der Sitzung des konst.
Reichstages v. 11. März 1867 St. B. 136 durch folgende Außerung wieder-
gegeben:
„Wir haben es für unsere Aufgabe gehalten, ein Minimum derjenigen
Konzessionen zu finden, welche die Sonderexistenzen auf deutschem Gebiete
der Allgemeinheit machen müssen, wenn diese Allgemeinheit lebensfähig
werden soll."
Man kann daraus den Schluß ziehen, daß die Bestimmung der Reichs-
verfassung, auf welche die Kompetenzbefugnisse des Reichs zu stützen sind,
nicht extensiv ausgelegt werden dürfen.
Über die Frage der Kompetenzerweiterung des Reichs und über die
Frage, ob dann Art. 4 einer Ergänzung bedarf, val. Art. 7 8 I. II.