104 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4.
werden, nur dann geprüft werden, wenn in dem betreffenden Einzelstaat
der Instanzenzug erschöpft ist, da anderesfalls der Zweck der Rechtssicherheit,
der durch die Einhaltung eines geordneten Instanzenzuges erreicht werden
soll, nicht erreicht werden würde; vgl. Staatssekretär des Innern Graf
v. Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 14. Dez. 1899 St. B. 3387
und Staatssekretär des Reichs-Justizamts Nieberding in der Reichstags-
sitzung v. 24. März 1903 St.B. 8894 A. Andererseits ist der Reichskanzler
— als der für die Ausübung des Kaiserlichen Aufsichtsrechts verantwortliche
Reichsminister (Art. 17) — nicht darauf angewiesen, mit einem Eingriff
zu warten, bis eine Beschwerde eingeht, sondern er kann aus eigener Ver-
anlassung und aus eigenem Recht die Aufficht ausüben — ebenso v. Rönne
II S. 64; insbesondere ist, wie Hänel, Staatsrecht l S. 304 hervorgehoben
hat, ein spontanes Eingreifen des Reichs zulässig und notwendig, „wenn
aus der Tätigkeit der Einzelstaaten sich eine Rückwirkung auf das Reich
ergibt.“ Auch wenn es sich um die Vorbereitung eines Landesgesetzes
handelt, „muß“", wie der Staatssekretär des Reichs-Justizamts Nieberding
in der Reichstagssitzung v. 24. März 1903 St. B. S. 8898 C) erklärt hat,
„die Reichsverwaltung in jedem Augenblick, in jedem Stadium der Vor-
bereitung eines Landesgesetzes das Recht haben zu prüfen, ob durch das
beabsichtigte Landesgesetz Reichsrecht verletzt wird"“. In allen diesen Fällen
aber kann das Aufsichtsrecht des Reichs nicht gegenüber den Behörden der
Einzelstaaten unmittelbar und nicht in der Weise geltend gemacht werden,
daß das beanstandete Gesetz oder Verfahren ohne weiteres für ungültig er-
klärt wird, sondern nur in der Form, daß die Zentralregierung des betref-
fenden Einzelstaats auf die Unzulässigkeit des Verfahrens hingewiesen und
um Abhilfe ersucht wird. Im Weigerungsfalle entscheidet der Bundesrat
gemäß Art. 7 Ziff. 3 und äußersten Falls tritt Art. 19 in Kraft; ebenso
Laband 1 S. 74, 2 S. 114.
3. Ist die Reichsaufsicht noch vor der reichsgesetzlichen
Regelung der Angelegenheit zulässig?
Diese Frage ist streitig. Sie ist bejaht worden in der Sitzung des
konst. Reichstags v. 21. März 1867 St.B. 315 vom Abg. Schwarze; er
erklärte:
„Im Art. 4 steht an der Spitze das Wort „Beaussichtigung“ und
dann steht erst „Gesetzgebung“; das hat (ebenfalls) seinen berechtigten
Sinn inbezug auf die gemeinsamen Angelegenheiten wie z. B. das Post-,
Telegraphenwesen, Eisenbahnwesen u. dergl. mehr; da läßt sich sehr wohl
denken, daß bereits jetzt eine Beaufsichtigung eintreten kann und muß,
ehe noch die Bundesgesetzgebung sich mit dieser Frage beschäftigt. Das
gilt besonders von den Fällen unter Nr. 8, wo es sich um Landes-
verteidigung und allgemeinen Verkehr handelt. Hierbei ist es wohl
begreiflich, daß noch ehe die Bundesgesetzgebung sich mit diesen Materien
beschäftigt, eine Beaufsichtigung in diesem Interesse schon eintreten kann.“
Die Ausführungen des Abg. Schwarze bezogen sich aber in erster
Reihe auf die Frage, ob das Aufsichtsrecht des Reichs auch für Angelegen-
heiten der Rechtspflege gegeben ist. Das wiedergegebene Bruchstück seiner
Rede bildet nur einen Inzidentpunkt in seinen auf das Aufsichtsrecht für
Justizangelegenheiten gerichteten Ausführungen. Es ist daher nicht auf-