Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

110 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 
zulässig sei, erledigte Angelegenheiten der Reichsaufficht noch zur Sprache 
zu bringen, ist einzuwenden, daß nach allgemeiner Praxis auch in Fällen, 
in denen der Standpunkt des Reichskanzlers bereits feststeht und bekannt 
ist, Interpellationen stattfinden, um die parlamentarische Verantwortlichkeit 
des Reichskanzlers in Fragen, welche die Ausübung des Auffsichtsrechts 
betreffen, zur Geltung zu bringen. Gerade weil es sich hier um ein Gebiet 
handelt, auf dem der Reichskanzler zwar verantwortlich, aber in seiner Ent- 
schließung vom Parlament völlig unabhängig ist, wäre es sogar verfassungs- 
mäßig mehr korrekt — wenn anders das Parlament vermeiden will, einen 
Einfluß auszuüben, der ihm verfassungsmäßig nicht zusteht — die An- 
gelegenheit erst zur Sprache zu bringen, wenn die Stellung der Reichs- 
verwaltung in der bezüglichen Frage bereits feststeht. 
Soweit die Aufsichtsbefugnis des Reichskanzlers reicht, hat also der 
Reichskanzler das Recht, auch die Tätigkeit der Regierungen und Behörden 
der Einzelstaaten zur parlamentarischen Erörterung zu bringen — immer 
unter der auch für die Kompetenz des Reichskanzlers erforderlichen Vor- 
aussetzung, daß der Instanzenzug in dem Einzelstaat erschöpft ist; vgl. die 
Erklärung des Staatssekretärs des Reichsjustizamts Nieberding, Reichstags- 
sitzung vom 22. Nov. 1902, St.B. 6535. 
5. Die Aufsichtsbefugnis des Reichs in Angelegenheiten 
der Rechtspflege. 
Ungeachtet dessen, daß das bürgerliche Recht wie das Strafrecht und 
das gerichtliche Verfahren nach Art. 4 Ziff. 13 zu den der Beaufsichtigung 
des Reichs unterstellten Angelegenheiten gehören, sind die Aufsichtsbefugnisse 
des Reichs ebenso wie die der Regierungen der Einzelstaaten ausgeschlossen, 
soweit die richterliche Unabhängigkeit reicht, d. h. soweit es sich um An- 
wendung der Gesetze und der anderen Rechtsquellen des geltenden Rechts 
durch die Gerichte handelt. Dies ist im Reichsrecht selbst anerkannt durch 
§ 1 G.V. G, wonach die richterliche Gewalt durch unabhängige, nur dem 
Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt wird. Schon vor Erlaß des G.V. G. 
war dieser Grundsatz in Geltung und mit bezug hierauf wurde im konst. 
Reichstag (Sitzung v. 21. März 1867) die Frage aufgeworfen, ob über- 
haupt das Aufsichtsrecht des Reichs auf Angelegenheiten der Rechtspflege 
auszudehnen sei. Der Abg. Schwarze sprach sich dagegen aus und be- 
antragte, aus den Ziff. 11, 12 und 13 des Art. 4 unter der üÜberschrift 
„der Gesetzgebung des Bundes unterliegen ferner“ einen besonderen Art. 4½ 
zu bilden, damit sie von dem nach dem Regierungsentwurf auf alle 
16 Ziffern sich erstreckenden einleitenden Satz „der Beaufsichtigung des 
Bundes unterliegen“ ausgenommen würden. Der Antrag hatte also nicht 
nur redaktionelle, sondern eine starke materielle Bedeutung, und der Abg. 
Schwarze führte zur Begründung des Antrags folgendes an (St. B. 315): 
„Es sei ihm nicht erklärlich, wie die „Beaufsichtigung“ sich auf Ziff. 11, 
12, 13 und 6 beziehen solle, denn es handle sich hier überall um Justiz- 
gesetzgebung; nach der bisherigen Fassung könne das Mißverständnis ent- 
stehen, als ob die Beaufsichtigung sich auch auf diese Angelegenheiten 
beziehen solle, wenn auch nicht anzunehmen sei, daß dieses Mißverständnis 
beabsichtigt sei . . . . Die Beaufsichtigung sei geradezu unmöglich bei den 
Fragen der Justizgesetzgebung. Sodann fuhr der Antragsteller fort:
	        
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