122 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4.
Darauf führte der Staatssekretär aus, daß die Kompetenz des Reichs
zu einem Eingriff in die Maßregeln der Einzelstaaten auf dem Gebiete der
Fremdenpolizei schon deshalb nicht gegeben sei, weil die diesbezügliche Ver-
fassungsbestimmung durch die Reichsgesetzgebung noch nicht ausgeführt sei.
Es handelte sich damals um die Frage, ob das Reich im Aussichtswege gegen-
über Ausweisungsmaßregeln der Landesregierungen einzuschreiten habe. Mit
Rückficht darauf bot sich dem Staatssekretär für seinen ablehnenden Standpunkt
eine bequemere Unterlage, wenn er — wie es geschehen ist — nur darauf
hinwies, daß jedenfalls ausführende Reichs-Spezialgesetze über die Fremden-
polizei noch nicht erlassen seien und daß schon deshalb die Grundlage für
Auffichtsbefugnisse des Reichs nach dieser Richtung fehlten. In dem ersten
Satz der Erklärung aber ist, wie die Bezugnahme auf die Begründung des
Antrags Michablis ergibt, außerdem der Standpunkt vertreten, daß dem
Reich überhaupt die Kompetenz fehle, nach dieser Richtung Gesetze zu erlassen.
Auch in den internationalen Verträgen des Reichs find Bestimmungen über
die Fremdenpolizei nicht enthalten. Dies betonte derselbe Vertreter der
Reichsverwaltung besonders, als der Reichskanzler in der Reichstagssitzung
v. 3. Mai 1906 wiederum wegen derselben Frage interpelliert wurde, und
zwar handelte es sich damals um Ausweisungen, welche die preußische
Regierung gegen Angehörige des russischen Reichs angeordnet hatte. Staats-
sekretär Graf v. Posadowsky-Wehner erklärte dabei St. B. 2867 f. unter Be-
zugnahme auf seine früheren Ausführungen:
„Zwischen Rußland und Deutschland besteht ein besonderer Nieder-
lassungsvertrag nicht. Aber auch in den Verträgen mit den Staaten,
mit denen wir Niederlassungsverträge geschlofssen haben — ich beziehe mich
da auf den Niederlassungsvertrag mit der Schweiz vom Jahre 1890 —
ist ausdrücklich gesagt, daß dadurch die Vorschriften über die Ausübung
der Fremdenpolizei in den einzelnen Staaten nicht berührt werden. Auch
das Freizügigkeitsgesetz bestimmt im § 12 ausdrücklich, daß ein allgemeines
Niederlassungs= und Aufenthaltsrecht lediglich die Reichsdeutschen haben,
daß aber die Vorschriften der Fremdenpolizei für Reichs-Ausländer da-
durch nicht berührt werden. Aus diesen formalen Gründen lehnt der
H. Reichskanzler die materielle Beantwortung der Interpellation ab, ganz
abgesehen davon, daß es für die Reichsinstanz unausführbar ist, alle die
einzelnen Ausweisungsfälle in den Einzelstaaten nachzuprüfen."“
Diesen Standpunkt hat Laband in der D. Jur. Zeit. 1906 S. 613 ff.
bekämpft. Er hat u. a. darauf hingewiesen, daß von den Behörden
der Einzelstaaten die Ausländer, abgesehen von besonderen Fällen, nur
aus ihrem Staatsgebiet ausgewiesen werden könnten, daß dann die aus-
gewiesenen Ausländer in einem der Nachbarstaaten naturalisiert werden und
daß daraus Konflikte zwischen den Einzelstaaten entstehen könnten, deren
Lösung dem Reiche obliege; auch könne eine Massenausweisung von Fremden
einer bestimmten Staatsangehörigkeit als ein Akt der Feindseligkeit gegen
diesen Staat angesehen werden und dann werde die auswärtige Politik des
Reichs berührt. Dagegen ist einzuwenden: es ist wenig wahrscheinlich, daß
die Ausweisung von Reichs-Ausländern zu Konflikten zwischen Deutschen
Bundesstaaten führt; nach den bestehenden Verwaltungseinrichtungen ist kaum
anzunehmen, daß Ausländer, die aus dem einen Bundesstaat ausgewiesen
find, in dem anderen naturalifiert werden. Sollte dies dennoch in ver-