128 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4.
so verwenden, wie es vielleicht geschehen würde, wenn wirtschaftliche Gesichts-
punkte für die Art und Dauer der Beschäftigung allein maßgebend wären.
Die Gewerbeordnung hat in ihrer jetzigen Gestalt und in Verbindung mit
den fie ergänzenden Gesetzen (Kinderschutzgesetz usw.) im eminenten Grade
einen bevormundenden Charakter.
Der sozialpolitische Grundsatz, der in der Gewerbeordnung und den
sich ihr organisch angliedernden, den Schutz der menschlichen Arbeitskraft
gegen Ausbeutung bezweckenden Gesetzen zum Ausdruck kommt, wird ergänzt
durch die unter g zu behandelnde Arbeiterversicherung. Von der Tatsache
ausgehend, daß die Arbeiter zum größten Teile nicht in der Lage find,
ausreichende Ersparnisse zu machen, um den wirtschaftlichen Schaden einer
längeren Arbeitslosigkeit aushalten zu können, bezweckten die Urheber der
Arbeiterversicherung, die Arbeiter gegen die Folgen der durch Krankheit,
Betriebsunfälle, Alter und Invalidität hervorgerufenen Arbeitslofigkeit sicher
zu stellen oder ihnen wenigstens die Last des dadurch verursachten wirt-
schaftlichen Schadens zu erleichtern. Entsprechend dem Ziel, das hier ver-
folgt wird, find auch die Mittel wesentlich anders, als diejenigen, die dem
von der Gewerbeordnung und ihren Ergänzungsgesetzen erstrebten Zweck
dienen. Während sich die letztere Gesetzgebung des Mittels bedient, die
Arbeitgeber in der Vertragsfreiheit und in der Freiheit der technischen Ein-
richtung ihres Betriebes zu beschränken, um die Arbeiter gegen Ausbeutung
zu schützen, handelt es sich bei der Arbeiterversicherung um unmittelbare
Geldzuwendungen von enormem Umfange an die wirtschaftlich schwächeren
Schichten der Bevölkerung und infolgedessen müssen den Klassen, die sich
im Durchschnitt eines größeren Besitzes erfreuen, den Arbeitgebern ent-
sprechend große finanzielle Lasten auferlegt werden. Namentlich die Unter-
nehmer größerer gewerblicher und landwirtschaftlicher Betriebe werden durch
die Beiträge zur Unfall= und Alters- und Invalidenverficherung zu außer-
ordentlichen Aufwendungen genötigt. Auch erfordert die Durchführung der
Versicherung von ihnen — wenigstens soweit es sich um größere Betriebe
handelt — ein erhebliches Maß von Arbeitskraft. Ferner werden durch
die Übernahme von Ehrenämtern viele Kräfte für die Selbstverwaltung der
Versicherung in Anspruch genommen. Das Reich bringt unmittelbar
finanzielle Opfer durch den Zuschuß zu den Invalidenrenten, aber auch
durch das große Maß von Arbeitskraft, das die Beaufsichtigung der
Arbeiterversicherung verlangt. Das letztere Opfer verteilt sich natürlich
auch auf die an dieser Aufsichtstätigkeit ebenfalls beteiligten Einzelstaaten
und deren kommunale Verbände und kommt wirtschaftlich in der Auf-
wendung für den Unterhalt einer großen Anzahl von Beamten zum Aus-
druck. Für die Gesetzgebung der Arbeiterversicherung ist es ebenfalls
charakteristisch, daß nach den ursprünglichen Gesetzen von 1884, 1886 und
1889 die Leistungen an die Versicherten weniger groß waren als nach den
späteren Gesetzen. Wie auf dem Gebiete der Gewerbeordnung haben hier
die Novellen im Verhältnis zu den ursprünglichen Gesetzen die soziale
Tendenz der Reichspolitik immer mehr zur Geltung gebracht.
Gedenkt man noch der umfangreichen Gesetzgebung des Reichs auf dem
Gebiete der Medizinalpolizei, die vorzusgweise den weniger bemittelten
Klassen zu gute kommt und der Bemühungen des Reichs um die Wohnungs-
fürsorge, so ergibt sich, daß das Reich ein ganzes System entwickelt hat,