II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 131
„Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere überzeugung
aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht aus-
schließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen,
sondern gleichmäßig auf dem der pofitiven Förderung des Wohles der
Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere keaiserliche
Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von neuem ans Herz zu legen,
und würden Wir mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge,
mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn
es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterland
neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hülfs-
bedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den
sie Anspruch haben, zu hinterlassen Für diese Fürsorge die
rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine
der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen
Fundamenten desschristlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an
die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren
in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und
staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Auf-
gaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange
nicht gewachsen sein würde."“
Später ist der Gesichtspunkt, daß die Sozialpolitik geeignet sei, politisch
beruhigend zu wirken, weniger betont worden und die Erwägung, daß der
Staat die ethische Pflicht habe, den Schwachen im wirtschaftlichen Kampfe
beizustehen, mehr in den Vordergrund getreten. Besonders bezeichnend ist
in dieser Beziehung der Erlaß des Kaisers an den Minister v. Maybach
und Freih. v. Berlepsch v. 4. Febr. 1890 (v. Poschinger Fürst Bismarck als
Volkswirt, Bd. 3 S. 236):
„Bei Meinem Regierungsantritt habe Ich Meinen Entschluß kund-
gegeben, die fernere Entwicklung unserer Gesetzgebung in der gleichen
Richtung zu fördern, in welcher Mein in Gott ruhender Großvater Sich
der Fürsorge für den wirtschaftlich schwächeren Teil des Volkes im Geiste
christlicher Sittenlehre angenommen hat.
So wertvoll und erfolgreich die durch die Gesetzgebung und Verwaltung
zur Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes bisher getroffenen Maß-
nahmen sind, so erfüllen dieselben doch nicht die ganze Mir gestellte
Aufgabe.
Neben dem weiteren Ausbau der Arbeiter-Versicherungsgesetzgebung
sind die bestehenden Vorschriften der Gewerbeordnung über die Verhält-
nisse der Fabrikarbeiter einer Prüfung zu unterziehen, um den auf diesem
Gebiet laut gewordenen Klagen und Wünschen, soweit sie begründet find,
gerecht zu werden.
Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß es eine der Auf-
gaben der Staatsgewalt ist, die Zeit, die Dauer und die Art der
Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der
Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch
auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben.
Für die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
find gesetzliche Bestimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen,
in denen die Arbeiter durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an
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