Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

134 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 
erfahren hat, kaum in Zweifel gezogen werden. Auch wenn man davon 
abfieht, daß ethischen, charitativen Bestrebungen des Staats auf die Dauer 
ein Erfolg, der in das Gebiet der politischen Imponderabilien gehört, nicht 
ausbleiben kann, auch wenn man ferner ganz außer Betracht läßt, daß der 
Staat sein eigenes Interesse schon wahrnimmt, wenn er zum Nutzen seiner 
wirtschaftlichen und militärischen Leistungsfähigkeit die in den breiten Volks- 
massen vorhandenen Kräfte möglichst schont und fördert, kann — objektiv. 
betrachtet — nicht bestritten werden, daß Maßregeln der Gesetzgebung, wie 
sie im Bereich der Gewerbeordnung und der Arbeiterversicherung getroffen 
werden, an sich geeignet find, den Klassengegensatz zu vermindern und diese 
Wirkung haben müßten, wenn dem Erfolge nicht durch außerhalb der Sache 
stehende Faktoren entgegen gearbeitet würde. Der Staat läßt auf Kosten 
der wirtschaftlichen Freiheit der Arbeitgeber im Interefse der Arbeitnehmer 
es nicht mehr zu, daß im wirtschaftlichen Kampfe die Macht allein ent- 
scheidet. Die Arbeitnehmer werden durch die Maßnahmen, die gegen die 
rücksichtslose Ausbeutung ihrer Arbeitskraft getroffen werden, kulturell ge- 
hoben und durch die ihnen in der Form der Arbeiterversicherung ge- 
machten Zuwendungen finanziell gestärkt; beides steht übrigens in Wechsel- 
wirkung. Es ist anzunehmen, daß auf diesem Wege es mit der Zeit 
einer größeren Anzahl von Personen aus den ärmeren Schichten gelingen 
wird, zu höhere Bildung und größerer Wohlhabenheit zu gelangen. Das 
Interesse der Arbeitgeber und Unternehmer, die bei einer Störung des 
inneren Friedens viel zu verlieren haben, geht mit dem Staatsinteresse 
Hand in Hand. 
Das Reich befolgt diese Politik mit zunehmender Entschiedenheit; zur 
Zeit sind außer der schon erwähnten Novelle zur Gewerbeordnung und dem 
Gesetzentwurf über Arbeitskammern eine allgemeine Reform der Arbeiter- 
versicherung und ein Gesetzentwurf über die Versicherung der Privatangestellten 
in Vorbereitung; auch die Einführung der Witwen= und Waisenverficherung 
steht bevor. An einen Stillstand der Sozialpolitik dürfte schon deshalb 
nicht zu denken sein, weil eine Politik, die sich so eng an die realen Wirt- 
schaftsverhältnisse anschließt wie die Sozialpolitik, also an einen Faktor, der 
mindestens jetzt und in absehbarer Zeit höchst veränderlich ist und fort- 
während neue Erscheinungen zeitigt, ihrerseits auf diese Veränderungen 
Rücksicht nehmen und ihnen folgen muß, wenn anders nicht alle mit so 
großen Opfern erworbenen Positionen aufgegeben werden sollen; vgl. die 
Erklärung des damaligen Staatssekretärs des Innern v. Bethmann Hollweg 
in der Reichstagssitzung v. 2. Dez. 1907 St. B. 1956 C. Schranken werden 
dem Reich für die übernahme von Aufwendungen auf den Fiskus des Reichs 
und der Einzelstaaten nur durch seine und der Einzelstaaten finanzielle Lage 
und für die Belastung der Unternehmer und Arbeitgeber nur durch die 
Rücksicht auf den internationalen Wettbewerb der Industrie gezogen, welch 
letzterer Gesichtspunkt schon in Betracht gezogen wurde, als die Sozialpolitik 
in größerem Stile inauguriert wurde und man insbesondere daran ging, 
die auf die Sonntagsruhe, die Beschränkung der Frauen und Kinderarbeit 
und die Festsetzung einer Grenze des Arbeitstages bezüglichen Bestimmungen 
der Gewerbeordnung einzuführen. In dem A.E. an den Reichskanzler 
v. 4. Febr. 1890 (v. Poschinger Fürst Bismarck als Volkswirt Bd. 3 S. 235) 
war hierüber folgendes gesagt:
	        
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