Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

136 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 
Maßregeln der Gesetzgebung ausgeführt werden sollen, ob dabei nur Gründen 
der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit oder auch ethischen Erwägungen Raum 
gegeben werden soll. Man darf deshalb nicht folgern, daß weil das Reich 
die eine oder andere dieser Materien, z. B. die Gewerbeordnung unter vor- 
wiegend sozialpolitischen Gesichtspunkten gesetzlich geregelt hat, nun jede 
Maßregel der Sozialpolitik zu seiner Kompetenz gehöre; nur soviel ist zu- 
zugeben, daß das Reich im Rahmen seiner durch Art. 4 umschriebenen 
Kompetenz für die Betätigung der Sozialpolitik freien Spielraum hat. Die 
Sozialpolitik ist schon deshalb keine ausschließliche Domäne des Reichs, weil 
die praktische Ausführung eines großen Teils der sozialpolitischen Gesetze, 
insbesondere der Gewerbeordnung, soweit dabei die Organe des Staates 
beteiligt find, den Einzelstaaten überlassen ist. Auch die Einzelstaaten find 
daher auf dem Gebiete der Sozialpolikik vor neue und große Aufgaben 
gestellt und es ist insbesondere nicht gerechtfertigt, alle an sich möglichen 
sozialpolitischen Zwecke, die mit dem gewerblichen Leben im Zusammenhange 
stehen, ohne weiteres der Kompetenz des Reichs zuzuzählen. Es ist auch 
hier stets im Auge zu behalten, daß die Vermutung für die Kompetenz der 
Einzelstaaten spricht. 
Die Kompetenz des Reichs ist z. B. nicht begründet für Aktionen, die 
in das Gebiet oder Wohlfahrtspolizei fallen, und nur unter diesem Ge- 
sichtspunkt noch als Staatsaufgabe anerkannt werden können. Hierher 
gehört die Beilegung von Streikes; vgl. die Reichstagsverhandlung v. 
26. Jan. 1904 St. B. 524 ff. Streikes, mögen sie mit oder ohne innere 
Berechtigung begonnen sein, mögen sie gelingen oder mißlingen, welch 
letzterer Fall so oft eintritt, lediglich deshalb, weil von den Urhebern die 
ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel überschätzt wurden, stellen durch 
die mit ihnen verbundene Schädigung des Nationalvermögens stets ein 
wirtschaftliches übel dar, und deshalb handelt es sich bei der Beilegung 
von Streikbewegungen um ein sozialpolitisches Ziel, das den allgemeinen 
Staatsaufgaben nicht fremd ist, aber nur die Einzelstaaten können nach 
Lage des geltenden Rechts eine dahingehende Tätigkeit entfalten, wenn im 
einzelnen Falle unmittelbare Eingriffe unternommen werden sollen, weil 
hierin nichts anderes als ein Akt der Wohlfahrtspolizei gefunden werden 
kann. Unter dem gleichen Gesichtspunkt hat die Reichsverwaltung die Zu- 
ständigkeit des Reichs abgelehnt, als in der Reichstagssitzung v. 18. Jan. 1902 
St. B. 3486B an sie das Verlangen gestellt wurde, für akute wirtschaft- 
liche Notstände sogen. Notstandsdarlehn zu gewähren und der ungünstigen 
Konjunktur des Arbeitsmarktes durch Schaffung vermehrter Arbeitsgelegen- 
heit zu Hilfe zu kommen, ferner als in der Reichstagsfitzung v. 21. April 1904 
St. B. 2288 das Einschreiten der Reichsverwaltung gegenüber der Stilllegung 
von Zechen gefordert wurde; in d. J. 1908 und 1904 waren nämlich im 
Rheinisch-Westfälischen Kohlenrevier zur Verminderung der Produktion mit 
Rücksicht auf Produktionseinschränkungen, die das Kohlensyndikat angeordnet 
hatte, Zechen stillgelegt und dadurch die Arbeitsgelegenheit vermindert 
worden. Hier spielte übrigens auch die streitige Frage hinein, ob das 
Reich zu Eingriffen in das Bergrecht kompetent sei, eine Frage, deren Lösung 
davon abhängt, ob man dem Worte Gewerbebetrieb im Sinne des Art. 4 
Ziff. 1 die weitere Bedeutung gibt, die es, wie anzunehmen ist, im Art. 3 R.V. 
hat, oder den eingeschränkten Sinn, welcher der Gewerbeordnung zugrunde
	        
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