Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 145 
einer indirekten nicht zweifellos ist, so ist doch die Frage mindestens auch 
zweifelhaft zu Gunsten der Zugehörigkeit zur Kategorie der direkten Steuern, 
und aus einem so zweifelhaften Falle kann kein Präjudiz für die Überführung 
der prinzipalen direkten Steuer der Einzelstaaten auf das Reich, namentlich 
der Einkommensteuer, hergeleitet werden, zumal die Einzelstaaten, wie in 
einer Erklärung des Staatssekretärs des Reichsschatzamts bezeugt ist, nur 
mit äußerstem Widerstreben sich entschlossen haben, zu Gunsten des Reichs 
auf die Einnahmequelle, die sich aus der Besteuerung der Erbanfälle ergibt, 
zu verzichten und dieser Akt ohne Rücksicht darauf, wie die Steuer zu 
charakterifieren sei, von den Regierungen der Einzelstaaten im Verhältnis zur 
Ubertragung sonstiger Vermögenssteuern als ein strenger Ausnahmefall an- 
gesehen worden ist. 
In der Einführung solcher Steuern würde eine Beeinträchtigung der den 
Einzelstaaten verfassungsmäßig gebliebenen Selbstständigkeit liegen und des- 
halb ist der Schluß gerechtfertigt, daß direkte Reichssteuern, wenigstens die- 
jenigen, welche die wichtigste Einnahmenquelle der Einzelstaaten bilden, wie 
die Einkommensteuer, mit dem Geiste der Reichsverfassung nicht vereinbar 
find. Die Ubertragung der direkten Steuern auf das Reich würde ein großer 
Schritt zur unitarischen Aufsaugung der Einzelstaaten sein, denn es würde 
damit die hauptsächliche Einnahmequelle der Einzelstaaten auf das Reich 
übergehen oder wenigstens, wenn die Einzelstaaten daneben zur Erhebung der- 
selben Steuer zuständig bleiben sollen, in ihrer Wirksamkeit vermindert werden, 
und die Einzelstaaten würden dadurch finanziell vom Reich in eine Ab- 
hängigkeit geraten, an die man bei der Gründung des Reichs kaum gedacht hat. 
Außer dem finanziellen ist auch der politische Gesichtspunkt von Bedeutung, daß 
in dem Recht zur Erhebung der direkten Steuern ein großes Stück der Staats- 
gewalt und eins der wesentlichsten, vom Standpunkt der allgemeinen inneren 
Politik bedeutungsvollsten Staatshoheitsrechte zum Ausdruck gelangt. Dazu 
kommt noch die steuertechnische Erwägung, daß die Einzelstaaten das 
ganze System der Gesetzgebung und Verwaltung der Einkommensteuern in 
einer auf die besonderen Verhältnisse ihres Staatsgebietes zugeschnittenen 
Form ausgebildet haben und daß es deshalb an einem übereinstimmenden 
Erhebungsverfahren fehlt, das vom Reich erst ausgebildet werden müßte. 
Wenn also auch nach dem Wortlaut der Verfassung ein Hindernis für 
die Einführung direkter Reichssteuern nicht besteht,, so ergibt sich doch aus 
politischen Erwägungen eine hinreichende Erklärung dafür, daß die Einzel- 
staaten, als sie sich zu Gunsten des Reichs eines wesentlichen Teils ihrer 
Staatshoheitsrechte entäußerten, mitbezug auf die eigentlichen direkten Steuern 
von Anfang an und bis jetzt den Standpunkt des „bis hierher und nicht 
weiter“ eingenommen haben; vgl. die Erklärungen des Staatssekretärs 
des Innern Graf v. Posadowsky-Wehner und des Finanzministers Freih. 
v. Rheinbaben in den Reichstagssitzungen v. 9. u. 10. Juni 1902 St.B. 
5501 Cu. 5549 D, des Staatssekretärs des Reichsschatzamts Freih. v. Stengel 
und des Finanzministers Freih. v. Rheinbaben in der Reichstagssitzung 
v. 28. Nov. 1907 St. B. 1868 A B und 1897 sowie die Ausführungen des 
Staatssekretärs des Reichsschatzamts Sydow im Oktoberheft der Deutschen 
Rundschau von 1908. 
Auch bezüglich des Tantiemen = Stempels ist übrigens die Ansicht ver- 
treten worden, daß er in das Gebiet der direkten Steuern falle. Dies ist 
Dambitsch, Deutsche Reichsverfassung. 10
	        
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