162 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4.
„Wir dürfen hier nicht vergessen, daß der Entwurf (der Verfassung)
gegenüber früheren Entwürfen, namentlich gegenüber der deutschen Reichs-
verfassung von 1849 einen sehr wesentlichen Vorzug darin hat, daß er
die Gesetzgebung der einzelnen Staaten in jenen Materien, welche der
Kompetenz des Bundes überwiesen find, keineswegs totmacht, sondern daß
er nur, insofern die Gesetzgebung der einzelnen Staaten mit der Gesetz-
gebung des Bundes in Konflikt gerät, die derogierende Kraft der Gesetz-
gebung des Bundes festhält. Es ist also keineswegs eine lokale, eine
provinziale Rechtsentwicklung in den einzelnen Staaten dadurch aus-
geschlossen oder gefährdet, daß die Kompetenz über allgemeine Interessen
in derselben Richtung dem Bunde übertragen wird.“
Von Binding (Handbuch des Strafrechts 1I S. 277) ist mit Recht darauf
hingewiesen worden, daß das Wort „gemeinsam“ in Ziffer 13 in Ver-
bindung mit „Gesetzgebung“ nicht die Kompetenz des Reichs, sondern seinen
Beruf zur Gesetzgebung bezeichnet, d. h. der Reichsgesetzgebung sollen nur
diejenigen Angelegenheiten des bürgerlichen Rechts, Strafrechts usw. unter-
worfen werden, bezüglich welcher für alle Bundesstaaten wirklich eine innere
Gemeinsamkeit besteht, nicht aber solche Materien, in denen partikulare, der
Schonung bedürftige Eigentümlichkeiten hervortreten; vgl. auch die nach-
stehende Bemerkung des Abg. Schwarze im konst. Reichstag St. B. 234:
„Ich kann eine gemeinsame Gesetzgebung nur so weit für berechtigt er-
achten, als auch in der Tat ein gemeinsames Bedürfnis dazu vorhanden
ist; — da, wo in kleinen Kreisen die Rechtsbildung sich erzeugt, würde
die Allgemeinheit und Gemeinsamkeit des Rechts eine Tyrannei enthalten.“
Der Abg. v. Gerber bemerkte in der Reichstagssitzung v. 20. März 1867
St. B. 290: »
„Man muß stückweise fortschreiten. Uberall, wo im Privatrecht bei
einem einzelnen Gebiete des wirtschaftlichen oder des gesellschaftlichen
Lebens oder sonstiger auf das Privatrecht wirkender Interessen das Be-
dürfnis auftritt, etwas Gemeinsames zu schaffen, da sollte unsere Bundes-
gewalt vorschreiten. So kommen wir allmählich auf einem äußerst
naturgemäßen Wege zu einem einheitlichen Rechte, und unsere deutsche
Jurisprudenz ist in der Lage stückweise den Boden zu ebnen und stück-
weise das Material vorzubereiten.“
Hierin liegt eine weitblickende Erkenntnis des Weges, den die Reichs-
gesetzgebung auf diesem Gebiet tatsächlich gegangen ist; ein allmählicher
Fortschritt zur Einheit des Rechts, der sich in gleicher Linie mit den realen
Bedürfnissen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens hält, ist das
Verfahren, das auch nach dem Inkrafttreten des B. G. B. bisher offenbar
erstrebt worden ist; so ist z. B. das Verlags= und das Versicherungsrecht,
letzteres wenigstens zum großen Teile, für welche beiden Gebiete das E.G.
zum B. G. B. im Art. 75, 76 noch Vorbehalte zu Gunsten der Landesgesetz-
gebung enthielt, nachträglich durch die Reichsgesetzgebung kodifiziert worden
(vgl. oben S. 156 und S. 140).
Außer den bereits unter den anderen Nummern des Art. 4 genannten
Reichsgesetzen sind hier noch anzuführen:
Das Ges. v. 7. Juni 1871 betr. die Verbindlichkeit zum Schadensersatz
für die bei dem Betriebe von Eisenbahnen, Bergwerken usw. herbeigeführten
Tötungen und Körperverletzungen R.G. Bl. S. 207 und 1896 S. 616;